Viele Menschen sind der Meinung, dass das Fundament einer guten Freundschaft auf den schönen gemeinsamen Momenten, auf der „sonnigen Seite des Lebens“ gebaut wird, den Erinnerungen an Abenteuer und Tanz, gehüllt in ein Gewand aus fröhlichem Gelächter, das einen bis in alte Tage begleitet und den Wunsch wahr werden lässt, eine Freundin an der Seite zu haben, mit der man im Alter von achtzig Jahren händehaltend auf einer hölzernen Bank unter Kiefern sitzt und sagen kann: „Weißt du noch, damals …“
Ja, manchmal besteht Freundschaft in erster Linie aus purem Glück, einer langen gemeinsamen Geschichte und stetigen kleinen Aufmerksamkeiten, aus tröstenden Worten bei kleinen Ungewittern und dem Gefühl, dass man sich in- und auswendig kennt.
Aber wir, Anja und ich, haben die Rechnung ohne das Leben gemacht. Das Leben, das uns mit einer unsichtbaren Schnur fester aneinanderbinden sollte, als wir uns vorstellen konnten.
Eine japanische Fabel, die Anja einmal gelesen hat, erzählt von solch unsichtbaren Bändern, die an den Knöcheln der Menschen befestigt sind, um sich zu spannen, wenn wir auf einen Seelenfreund treffen.
Wir kannten uns noch nicht lange, als Anjas schwarzen Tage über allem schwebten wie ein Mückenschwarm, der sich zum Angriff bereitmacht. Die schwarzen Tage, weil es uns immer noch schwerfällt, das Wort Krebs auszusprechen. Wir denken auch heute noch nicht gerne daran und können verstehen, warum manche Erkrankte sich Fantasy-Namen ausdenken. So wie Karl Arsch, Hugo Übel oder Kackfrosch.
Aber Krebs kann jeder kriegen, und um ihn erfolgreich zu bekämpfen, braucht es außer der medizinischen Betreuung kostbare Freundschaften, die einem die Kraft geben, trotz Krankheit frei zu bleiben und unter Wasser atmen zu lernen.
Fünf Jahre war es erst her, dass wir uns kennengelernt hatten.
Zu Anfang gab es hier und da sogar Reibungspunkte zwischen uns beiden Frauen, da zwei recht unterschiedliche Charaktere mit einem Rumms aufeinandertrafen, der sich gewaschen hatte.
Ich, das etwas verpeilte und manchmal distanzlose Mädel vom Land, und Anja, die mich mit ihrer einnehmenden Energie zunächst überforderte. Ich sag nur „Reizfilterschwäche“ dank ADS.
Sie ist so präsent, auch am Telefon, dass ich zu Beginn sogar nachts von ihr träumte und die Geschäftstelefonate, die wir geführt hatten, erst am nächsten Morgen analysierte. Vielleicht war ich sogar ein wenig eingeschüchtert, denn zu der Zeit kannte ich sie nur von Fotos, die mir eine sehr schöne Frau zeigten, und durch Gespräche, die ihre Weltgewandtheit deutlich machten. Auf der anderen Seite ich verwirrtes Huhn, mit meinen Problemen, mich in meiner kleinen Welt auf dem Lande zurechtzufinden.
Als wir uns immer mehr annäherten und ich nicht mehr aus Schüchternheit ins Schwitzen geriet, wenn ich sie anrief, begannen wir ganz überraschend, unsere Ähnlichkeiten zu erkennen. Plötzlich war da dieses Gefühl, sich vertrauen zu können. Dieses zarte Annähern war wie ein Zauber und fühlte sich richtig an. Die unsichtbaren Bänder an unseren Knöcheln begannen sich sanft zu straffen und die Schnur unserer Freundschaft verknüpfte uns über hunderte Kilometer miteinander.
Anja ist genauso impulsiv wie ich und hat den gleichen „Herzklappenfehler“: Klappe zu groß, Herz zu weich. Und wir lieben Hunde, Pferde, den Wald und Prosecco.
Sie ist beeindruckt von meiner Selbstverständlichkeit, Dinge zu analysieren. Völlig unzensiert, und dass ich immer nur das Gute im Blick habe.
Ganz schnell wurde uns klar, wie sehr sich unsere Weltanschauungen ähnelten und so stellten wir fest, dass wir gar nicht so verschieden waren.
Wie gerne wir beide auf das Geschehen der Welt mit einem verklärten Blick der Gerechtigkeitsliebe schauten und das Beste hofften. Es war, als schwebten wir auf zwei klitzekleinen friedvollen Wolken, die sich plötzlich trafen und zusammenwuchsen. Und plötzlich thronten wir gemeinsam über Allem, nichtsahnend, dass uns noch mehr verbinden sollte. Und auch wenn die weibliche Intuition oft hinkt und das Leben korkt, gibt es manchmal diese Art Band, das sich unsichtbar von einem zum anderen Menschen spannt und dortbleiben möchte. Ein Versprechen auf mehr, sozusagen.
Sind Sie schon mal Zug gefahren und an einem völlig anderen Zielbahnhof gelandet? Das passiert, wenn die Abfahrtgleise geändert wurden, man diese Tatsache überliest und gutgläubig in den Wagon einsteigt, der am zuvor geplanten Gleis steht.
So war es bei uns. Am Anfang hätten wir nicht gedacht, einmal so vertraut miteinander zu sein, wie wir es jetzt sind. Doch vielleicht hätten wir es ahnen müssen, denn manches im Leben geschieht nicht ohne Grund. Schicksale schmieden Allianzen und Karma ist ein drolliges Wesen.
Wir beide hatten Krebs, eine Krankheit, die alles erschüttern kann. Die die Mauern eines Lebens wie eine Atombombe in Millisekunden einstürzen lässt. Wenn man Pech hat, bleibt kein Stein auf dem anderen.
Niemand erwartet die Königin der Krankheiten, doch wenn ein Arzt diese Diagnose stellt, bleibt der Atem für Sekunden stehen. Man läuft durch einen Nebel aus zusammengeklebter Luft, der einen hindert, nach vorne zu gehen. Jede Bewegung wird abgeschnitten, man verfängt sich wie in einem Spinnennetz und hängt fest. Als wäre man nur noch fähig, die Augen zu bewegen und mit Schrecken zu beobachten, was kommt.
Schockstarre – tausende Fragen rasen gleichzeitig und parallel wie ein immer wiederkehrendes Echo durchs Hirn und prallen an der Schädeldecke ab. Ganz plötzlich ist da nur noch ein Ziel: Überleben! Und die Hoffnung, durch ein Füreinanderdasein zu wachsen und zu wissen, dass man nicht allein ist.