Cover des Buches Ein komplizierter Akt der Liebe (ISBN: 9783827005984)
vielleichtsagerins avatar
Rezension zu Ein komplizierter Akt der Liebe von Miriam Toews

Rezension zu "Ein komplizierter Akt der Liebe" von Miriam Toews

von vielleichtsagerin vor 13 Jahren

Rezension

vielleichtsagerins avatar
vielleichtsagerinvor 13 Jahren
Ähnlich wie "Schloss aus Glas" von Jeanette Walls ist der vorliegende, mit dem renommierten Governer's General Literary Award ausgezeichnete und bereits 2005 erschienene Roman das Ergebnis literarischer Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie - um es vorwegzunehmen, ein sehr gelungenes und von universellem Interesse. In Unterschied zu Walls, die ohne jedwede Kunstfiguren auskommt, macht Toews die schnoddrige 16-jährige Nomi zu ihrem fiktiven alter ego und lässt sie von ihrer Kindheit in einer mennonitischen Gemeinde sowie dem Verschwinden der "schöneren Hälfte" ihrer Familie in 28 tragikomischen Kapiteln mit aufmüpfigem Witz und Ironie berichten. Ray, Trudie, Tash und Nomi Nickel leben im kanadischen East Village, dessen Main Street auf beiden Seiten symbolträchtig in einen staubigen Acker - die ewige Verdamnis - mündet. Entsprechend eingeschränkt sind auch die Karrierechancen, aus denen die Absolventen der hiesigen High School wählen dürfen: Idiotische Arbeiten im historischen Freilichtmuseum verrichten, wo Touristen das einfache Leben der "Jesus-Freaks" in natura studieren können, oder zarte Hälse umdrehen und gefiederte Leichen aufs Fließband werfen in der orteigenen Geflügelfarm. Nicht minder trist die Freizeitmöglichkeiten. Kino, Tanzen, Alkohol, Reisen, Billard, Schmuck, alles, was Spaß macht? Verboten. "Was erlaubt ist und was nicht, war so willkürlich und absurd wie Versteckspielen mit Zweijährigen [...]. Aus unerfindlichen Gründen war es in Ordnung, Batman zu gucken, obwohl der gegen menschenfressende Pflanzen und den Joker kämpfte, dessen Spitzname natürlich, da es eine Spielkarte war, auf das Böse anspielte. Verliebt in eine Hexe und Bezaubernde Jeannie sollten wir eigentlich nicht gucken, weil die Zauberei darin Teufelswerk war [...]." Unterm Strich sind Mennoniten offenbar "die peinlichste religiöse Untergruppierung von Menschen, zu der man als Teenager gehören kann." Denn: "Wir Mennoniten sollen uns gefälligst fröhlich auf den Tod freuen und bis zu diesem gelobten Tag möge unser Leben ein Abbild des Todes oder zumindest des Dahinsiechens sein." Innerhalb der Familie Nickel verläuft eine feine Demarkationslinie. Sie formt eine konfliktschwangere Landkarte der Loyalitäten. Sie trennt Ray von Trudie und Tash von Nomi. Während Ray und (die kleine) Nomi die zahlreichen dos and don'ts blind akzeptieren, sind sich Trudie und Tash allzu bewusst der Absurdität des religiös vorgeschriebenen Lebenstils. Als Teenager rebelliert Tash schließlich heftig gegen die künstlich konstruierten Verbote und handelt sich die Exkommunikation ein. Die Geächtete verlässt mit stummer Zustimmung ihrer Eltern und unbekanntem Ziel das elende East Village , "die Witzstadt in der Witzprovinz eines Witzlandes". Ab da waren es nur noch drei. Trudie hatte ihren Mann, ihre Töchter und ihre Bücher. Sie hatte aufreizende Nachthemden, weiße Spitzengardinen, sogar einen Pass. Trudie war die brave Kirchenkeller-Maid in Moonboots, aber auch das rebellische Girl mit sexy Wäsche. War sie gut? War sie böse? Oder einfach gut darin, böse zu sein, und sich dabei nicht erwischen zu lassen? "Etwas schwelte in ihr, etwas Heftiges, Extremes, Unewartetes, so im Stil "Säge im Geburtstagskuchen". Sie spielte zufrieden, wie Jack Nicholson in Einer flog über das Kuckucksnest verrückt spielt." Sieben Wochen nach dem Verschwinden ihrer älteren Tochter wird auch Trudie exkommuniziert und kehrt East Village den Rücken. An Spekulationen, wohin die lebenslustige und seit jeher unangepasste Familienmutter gegangen sein könnte, mangelt es nicht. Doch wer weiß genaueres über ihren Aufenthaltsort? Niemand. Ab da waren es nur noch zwei. Die Zurückgelassenen entwickeln eigene Strategien zur Bewältigung der neuen Situation. Ray fährt nächtelang spazieren und räumt in seiner Freizeit die Müllkippe auf: "Für Ray war die Müllkippe eine Art Kaufhaus, oder noch eher eine Art Friedhof, wo er ausgediente Träume und zerschlagene Gegenstände zu Familien sortieren konnte - Familien, die zusammenblieben." Nomi, in der Zwischenzeit zur Rebellin gereift, greift zu Drogen und ihrer Fantasie, um die Ungewissheit verdrängen: "Wie gesagt, ich weiß nicht, wo sie ist, aber ich stelle mir verschiedene Szenarien vor. Und bei den meisten reist meine Mutter mit ihrem Pass in der Hand irgendwo in der Weltgeschichte herum. Deswegen war ich ja so abgrundtief enttäuscht, als ich in der obersten Kommodenschublade ihren Pass gefunden habe. Meine Entdeckung warf die hässliche Frage auf, wo sie sein mag, wenn nicht irgendwo in der Weltgeschichte." Nach Nomis Exkommunikation verschwindet auch Ray. Wortlos, grußlos, spurlos. Für immer. Ab da war es nur noch eine. Bis Seite 291 habe ich mich über den Klappentext etwas geärgert: In „Eines Tages verschwindet Nomis Schwester und kurz darauf ihre Mutter. Niemand weiß, wohin. Und die gläubige Gemeinde schweigt“ schwingt für mich zumindest die Spur eines Verbrechens, einer undurchsichtigen Verwicklung mit. Dabei verlassen Tash, Trudie und Ray (dessen Weggang im Klappentext erst gar nicht erwähnt wird) allem Anschein nach doch freiwillig East Village. Glasklar. Bewusste Irreführung als Strategie zur Verkaufsförderung? Mit schwerwiegenden Fragen zum Weggang ihrer Eltern hat es Nomi auf den letzten Seiten des Buches dann aber doch geschafft, den/die Klappentextschreiber/in zu rehabilitieren und einen köstlichen Kitzel des Geheimnisses heraufzubeschwören: "Lag etwa ihre Leiche auf dem Grund des Rat River, die braunen Augen weit aufgerissen, bis in alle Ewigkeit in gespieltem Entsetzen? Oder lebte sie und verkaufte munter Tupperware an Touristen an der Ostküste? War Dad wirklich losgezogen, um Müll von Berggipfeln zu klauben, oder lag auch er auf dem Grund des Rat River?" Sind wortloses Verschwinden und Selbstmord die Dinge, zu denen Menschen gezwungen sind, wenn sie nicht stark genug sind, "um ohne jeden Glauben zu leben, oder stark genug, aufzubegehren und ein ganzes System zu ändern oder eine Kirche zu stürzen"? Mit solchen düsteren Andeutungen und einer Menge Fragezeichen entlässt Nomi den verstörten Leser schließlich in die Spekulationsfreiheit, wo er eigene Hypothesen über den Verbleib der verschwundenen Nickels spinnen darf – und dies auch gerne tut ... Fazit: Die auf den Punkt komponierte Mischung aus ironischer Distanz, schwarzem Humor und Empathie ohne Pathos hat mir sehr gut gefallen. Ein vortreffliches Exemplar aus der Familie "erschütternd komisch, erschütternd traurig"-Bücher. Empfehlenswert für Liebhaber schrägen Humors, für Action-Verliebte weniger geeignet. Wären Juno MacGuff und Esther Greenwood in East Village aufgewachsen, hätten sie ein Buch wie dieses geschrieben!
Angehängte Bücher und Autor*innen einblenden (2)

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks