Cover des Buches Wie wir verschwinden (ISBN: 9783895614033)
Rezension zu Wie wir verschwinden von Mirko Bonné

Rezension zu "Wie wir verschwinden" von Mirko Bonné

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 14 Jahren

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 14 Jahren
Die Zeit spielt regelmäßig wie die konstante Bewegung der Uhrzeiger ihre Streiche. Mal vergeht sie gefühlsmäßig schnell, mal schleicht sie wie eine Schnecke. Sie hat auch das riesige Talent, uns viel vergessen zu lassen, im Fluss der Zeit. Auch ganz besondere Erfahrungen und Erlebnisse geraten trotz ihrer Einmaligkeit ins Abseits des Gedächtnisses. Vielleicht ist dies aber nur eine Schutzfunktion, die wir in uns tragen, dass wir allzu Trauriges mit der Zeit vergessen, auch wenn sie die Wunden nie heilen kann, wie es der oft naive Volksmund uns weismachen will. Doch manchmal brauchen wir trotzdem Aufforderungen, einen Anlass, uns an spezielle Ereignisse zu erinnern, wie im Fall des Helden aus Mirko Bonnés neuem Roman „Wie wir verschwinden.“ DIE BRIEFE Raymond Mercey erhält eines Tages einen mysteriösen Brief. Nicht der Absender erscheint für den pensionierten Geschäftsführer eines renommierten Labors und Witwer mit zwei erwachsenen Töchtern ein Rätsel, vielmehr stellt er sich die Frage, warum sein früherer Freund Maurice nach mehr als 40 Jahren Funkstille erneut Kontakt zu ihm sucht. Der Inhalt des Briefes erklärt schließlich die Lösung – Maurice leidet an einer seltenen und tückischen Nervenkrankheit. Ihm bleibt deshalb nicht viel Lebenszeit, und er möchte Raymond noch einmal sehen. Mit den Briefen sendet der Freund aus der gemeinsamen Kindheit zudem Texte, die einen speziellen Tag im Leben der beiden Männer literarisch verarbeiten. Denn gleichzeitig war dieser Tag, ein Januartag im Jahr 1960, der letztes eines bekannten und renommierten Schriftstellers, der im Heimatort von Raymond und Maurice bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Raymond beginnt sich wieder an jenen besonderen Tag zu erinnern. Raymond und Maurice wachsen in dem kleinen Ort Villeblevin nahe Paris auf. Sie sind nahezu unzertrennlich. Gemeinsam stromern sie durch die Landschaft und basteln an einer Maschine des „Verschwindens“, einer alten, verfallenen Draisine, die sie nahe der Eisenbahnstrecke aufgespürt haben. Doch zwischen ihn steht bald ihre Mitschülerin, die hübsche Delphine, in die beide verliebt sind. Jener Tag zum Beginn des Jahres 1960 bringt das Ende einer Freundschaft und den Tod für jenen großen Schriftsteller: Albert Camus. Doch nicht nur die Ereignisse bringen Raymond ins Grübeln. Denn in der Familie kommt es zu Spannungen: Seine Tochter Jeanne hat ein Verhältnis und lässt sich von ihrem Mann scheiden. Und dann gibt es noch die Frage, welche Beziehung Raymonds Frau Veronique, die vor einigen Jahren an Krebst verstarb, hat. Denn eines Tages tauchen Bücher auf, von Maurice geschrieben und mit Widmungen für Veronique versehen. Raymond muss sich diesen Problemen stellen, vor allem einer Begegnung mit seinem früheren Freund Maurice, um Antworte auf jene Frage zu bekommen und ein bestimmtes Kapitel in seinem Leben zu beenden. CAMUS TOD Selbst die kurze Inhaltsangabe zeigt, wie treffend der Titel des Romans gewählt wurde und zugleich auf wie verschiedene Art und Weise er verstanden werden kann. „Wie wir verschwinden“ – viele Arten des Verschwindens tauchen in diesem Buch auf. Es gibt eine Maschine des Verschwindens; die Trennung von einem Freund birgt auch eine Form des Verschwindens. Ja, selbst der Tod verwandelt einen Zustand; den des Vorhandenseins in ein Verschwundenes. Immer wieder kehrt Mirko Bonné zu jenen Fragen zurück und immer wieder verbindet er diese verschiedenen inhaltlichen Stränge – die fiktive Geschichte der beiden Männer und der reale Unfall von Albert Camus. Und das auf eine eindrucksvolle Art und Weise. Denn gerade diese Vernetzung bewirkt eine Spannung, die dieses Buch zu einem Lesegenuss werden lässt. Man fliegt über die Seiten, will erfahren, was an jenem Tag im Januar 1960 nun geschehen ist, warum die Freundschaft der beiden Männer urplötzlich ein Ende fand. Und wie geht überhaupt die Begegnung nach mehr als 40 Jahren aus? Doch ein wirklich guter Roman besticht nicht nur durch seine Spannung, dieses besondere Element der Unterhaltung, dem leider heute meist dem Vorrang gegeben wird. Und „Wie wir verschwinden“ ist ein wirklich guter Roman – das schon einmal vornweg. Was den Zauber ebenfalls ausmacht ist jene Sprache, die in einzelnen Szenen des Erzählens oder auch in den Phasen des Erinnerns und Grübelns eine dichte und bildhafte Atmosphäre schafft. Orte werden detailreich beschrieben, Personen eindrucksvolle mit Sprache erschaffen. Der Eindruck, in einem Kinosaal zu sitzen und gebannt auf die Leinwand zu starren, ist genau jenes Gefühl, das man spürt, liest man dieses Buch. Dabei ist dieser Film im Kopf ein Schwarz-Weiß-Film, vor allem mit den typischen Eigenschaften eines französischen Streifens. Haben die Franzosen nicht bei Filmen ein Händchen für die speziellen Verhältnisse der Menschen untereinander, für Szenen mit Überraschungen und Konfrontationen? Hinzu kommt noch ihr Talent für Details, die der Kamera nicht entgeht, auch wenn sie vielleicht nur winzige Teile des Umfeldes sind. Mirko Bonnés Buch „Wie wir verschwinden“ wird – wenn auch recht simples Sprachspiel nutzend – wird nicht aus dem Gedächtnis eines Lesers verschwinden, läse er noch so viele und dicke und spannende Bücher. Der Roman ist etwas Besonderes für all jene, die wehmütige und intelligent konstruierte Geschichten und überraschende Wendungen lieben. Zudem könnte das Buch ein spezieller Beitrag in diesem Jahr sein, in dem der nunmehr 50. Todestag von Albert Camus begangen wird. Hinweise auf seine Werke, für die er zudem den Literaturnobelpreis bekam, finden sich an zahlreichen Stellen, vielleicht auch als Aufforderung den großen französischen Schriftsteller und seine Bücher wie „Die Pest“, „Der Mythos des Sisyphos“ oder „Der Fremde“ neu zu entdecken. Er starb viel zu früh, und dass der Tod meist unerwartet und viel zu schnell Schicksale an sich reißt, belegt ebenfalls dieser wunderbare Roman. DER AUTOR Mirko Bonné, 1965 in Tegernsee geboren, jobbte nach seinem Abitur in verschiedenen Berufen. 1994 erschien sein Debüt – der Lyrikband „Langrenus“, zwei Jahre später das zweite Buch mit Gedichten unter dem Titel „Gelenkiges Geschöpf“. Bonné arbeitet zudem als Übersetzer und brachte in der Vergangenheit unter anderem Werke von Keats, Cummings und Yeats ins Deutsche. Er schreibt außerdem für mehrere Zeitungen und Zeitschriften und Beiträge für literarische Anthologien. Sein 2006 erschienener Roman „Der eiskalte Himmel“ erhielt positive Kritiken. In den vergangenen Jahren wurde der Autor, der heute in Hamburg lebt, mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter den Förderpreis zum Kunstpreis der Stadt Berlin und den Ernst-Meister-Förderpreis.
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