Der unabhängige Münchner Verlag „Caminando“ hat es sich zum Ziel gesetzt, den Themenkreis Liebe und ihre Irrungen und Wirrungen sowie die Fähigkeit des Menschen zu Vergebung und Versöhnung zu beleuchten. Der Roman „Kaktusfrucht“, der 2014 seine zweite Auflage erreicht hat, wird diesem Anliegen in besonderer Weise gerecht. Dieses über 400 Seiten starke Werk erstreckt sich über drei Generationen spannender Familien- und Freundeskreisgeschichte. Sie spielt zeitweilig in bis zu drei Kontinenten, vorrangig jedoch in Griechenland und Deutschland.
Die griechischen Großeltern der Protagonistin Sarah sind mit ihrer Elternrolle ziemlich überfordert. Ihr ältestes Kind und einzige Tochter, Eleni, wird somit schon sehr früh in ihrer siebenköpfigen Familie als Dienstmädchen missbraucht. Eine Rolle, die das Mädchen sowohl mit Gutmütigkeit als auch mit immer wieder durchbrechendem Groll ausführt. Ihr hochbegabter, feinfühliger und epileptischer jüngerer Bruder wird in ihrer Jugend zu ihrem „ein und alles“.
Als sie volljährig wird, entscheidet sich Eleni für ein Leben in Deutschland, fasst hier aber schlecht Fuß. Nach und nach legt sie ihre Schüchternheit ab und zeigt ihr griechisches Temperament. Aus dem Zusammenspiel mit der Vernunftorientiertheit ihres Ehemannes resultiert immer wieder heftiger Streit. Zudem bestürzt sie der frühe Tod ihres geliebten Bruders in Griechenland. Elenis großer Trost und Freude ist ihre kleine Tochter Sarah. Aber selbst die Pflege des prächtigen Mädchens vermag Elenis Depressionen nicht zum Stillstand zu bringen. Und so nimmt sich die Mutter das Leben, als Sarah erst neun Jahre alt ist.
Aus der kleinen Sarah wird ein bildhübsches, unnahbares junges Mädchen, das von ihrem Vater und einer liebevollen, fügsamen Stiefmutter großgezogen wird. Auch zur griechischen Großmutter hält Sarah stets Kontakt. Später heiratet sie einen ihrer Verehrer, ohne ihn wirklich zu lieben – und seinerseits sieht er in seiner Ehefrau eher ein Schmuckstück als eine Partnerin. Die aufgesetzte Harmonie zerbricht, als ein Strudel an Ereignissen ins Rollen kommt, der hier nicht näher geschildert werden soll, um dem Leser die Spannung zu erhalten. Soviel sei jedoch preisgegeben, da dies bereits der Klappentext des Buches offenlegt: Sarah begegnet wieder – erstmals auf Augenhöhe – einem um einige Jahre jüngeren Jugendfreund, der sie als Kind vergöttert hatte.
Nach einem tiefgreifenden Schicksalsschlag macht Sarah eine innere Wandlung durch, die sie befähigt, sich selbst und andere unabhängig von äußeren Maßstäben wertzuschätzen, sich intensiver dem Leben hinzugeben und sich nicht mehr so sehr – auf der Suche nach vermeintlicher Sicherheit – abzukapseln. Tonangebend bei ihrer Wandlung ist eine Freundin, die völlig unerwartet, sogar heldenhaft treu zu ihr hält und ihr vorlebt, dass innere Freiheit darin bestehen kann, das jeweils Beste aus dem eigenen Schicksal zu machen. Allmählich kommt Sarah über ihr Kindheitstrauma hinweg.
Gleich in den ersten Seiten des Buches wird der Leser mit Elenis Suizid konfrontiert. Diese Vorausschau wirft ein Fragezeichen über die gesamten folgenden Kapitel. Auch bis zum Ende des Romans möchte man ihn nicht mehr aus der Hand legen; die Spannung wächst mit jeder Seite. Dabei sind es nicht nur die zu erwartenden äußeren Ereignisse, die zum Weiterlesen animieren, sondern auch die Sorgfalt der Sprache: Stets schwingt eine tiefgründige Ebene der einfühlsamen und versierten Darstellung der Charaktere mit, sodass deren innere Motive klar fassbar werden. Die subjektive Sicht der einzelnen Personen wird gekonnt vermittelt. So auch deren teilweise Verwirrung. Zum Beispiel werden Elenis Gedanken in Bezug auf ihren geplanten Suizid in dieser Art beschrieben: Sarah sei mit ihren neun Jahren bereits „alt genug“, um in vielerlei Hinsicht selbst für sich zu sorgen. Infolgedessen sei der Zeitpunkt der Tat „mit Bedacht gewählt“... (S. 12)
Die Einfühlung der Autorin in ihre Charaktere geht so weit, dass sogar die Hermes-Statue im Garten der Großeltern personifiziert wird, da die Großmutter gewöhnlich ihre Gebete an sie richtet. So schreibt Monika Baur auf Seite 26: „Mit seinem hintergründigen Lächeln sah der Götterbote auf das Treiben der Sterblichen: flüchtige Gestalten, gefangen in ihrer eigenen Begrenztheit und in der Vorstellung von Zeit und Raum. Wie wichtig sie sich nahmen, jeder sich selbst!“
Die philosophisch und sprachlich hohe Bildung der Autorin kommt ihrem Werk sehr zugute, ohne dass es an einer einzigen Stelle belehrend wirken würde. Die Romanfiguren machen sich mitunter Gedanken über ihr Leben sowie über das Menschsein allgemein; dies geschieht jedoch nicht in höherem Ausmaß, als es im realen Leben oft der Fall ist: situationsbezogen, authentisch, von innen heraus und im Sinne von Erfahrungsaustausch.
Es ist dem Buch „Kaktusfrucht“ sehr zu wünschen, dass es in die Hände von Lesern verschiedenen Alters gelangt: Ein jeder kann davon profitieren, zum Nachdenken angeregt werden und sich damit weiterentwickeln. Auch eine gute Verfilmung des Romans wäre mit Sicherheit von Gewinn.
Sylvia Führer