Rezension zu "Der Schrecken verliert sich vor Ort" von Monika Held
RU - RÜCKKEHR UNERWÜNSCHT...
Als in den 1960er Jahren die Auschwitz-Prozesse stattfinden, reist Heiner Rosseck, Häftlingsnummer 63387, erstmals wieder nach Deutschland, um dort als Zeuge auszusagen. Denn nur dieser Gedanke ließ ihn zwei Jahre in Auschwitz überleben: eines Tages der Welt von den Gräueln berichten zu können. In Frankfurt bricht er im Gericht zusammen. Die junge Dolmetscherin Lena hilft ihm auf und weiß sofort, dass sie diesen Mann festhalten muss. Auf den ersten Blick haben Lena und Heiner nicht viel gemeinsam. Sie träumt von Ferien in der Südsee; er verbringt die Nächte mit den Schrecken von Auschwitz, das für ihn und andere Überlebende eine pervertierte Form von Heimat geworden ist. Die beiden wagen die Liebe. Lena fragt sich, ob sie die Welt, in der ihr Mann zuhause ist, je verstehen wird. Heiner fragt sich, wie er sein Trauma aus Bildern und Geräuschen seiner Frau verständlich machen kann, und ob es eine Grenze gibt, bis zu der man Erfahrungen weitergeben kann. Sollte er sie finden, wird er sie einreißen. (Verlagsbeschreibung)
Heiner wird während des Zweiten Weltkriegs als junger Kommunist in Wien verhafet und im September 1942 nach Ausschwitz deportiert - auf seinem Haftbefehl der Vermerk RU: Rückkehr unerwünscht. Ein klares Todesurteil. Mit ihm werden 1860 Menschen in das Konzentrationslager transportiert - davon überlebten letztendlich nur vier. Heiner war einer davon, nach zwei Jahren in Ausschwitz. Der Gedanke an ein Danach hielt ihn aufrecht, die Möglichkeit, die unfassbaren Gräuel, deren Zeuge er täglich wurde, der Welt präsentieren und die Täter an den Pranger stellen zu können. Doch die Auschwitz-Prozesse deprimieren ihn letztendlich.
"Das Lager wollte er überleben, um Zeuge zu sein. Er hatte das Lager überlebt - wo war der Sinn? Die Täter waren verurteilt, saßen ihre Strafen ab ohne Reue, ohne Einsicht, ohne Schock über das, was sie getan hatten." (S. 83)
Ein Grund mehr für Heiner, Deutschland endgültig den Rücken zu kehren. Doch trifft er bei den Prozessen auf Lena, die beiden gehen eine Liebe ein, von der nicht klar ist, ob sie die Vergangenheit überleben wird. Lena möchte in der Gegenwart mit Heiner leben, von einer Zukunft träumen. Doch Heiner lebt häufig in der Vergangenheit, kann sie nicht loslassen, will sie nicht loslassen. Gerüche, Geraäusche, Bilder - vieles wirft ihn in Flashbacks zurück, erinnert ihn an Auschwitz, kreiert die Gräuel immer wieder aufs Neue. Aber er selbst hält auch an den Erinnerungen fest, an einem Glas mit Sand zum Beispiel. Doch ist dies kein normaler Sand, wie er nicht müde wird zu erzählen.
"Wenn du in Birkenau vom Frauenlager hinüber gehst zum Krematorium II, dann entdeckst du dort einen schmalen Pfad, nichts Besonderes. Die Menschen achten nicht darauf, sagte er, wenn es unter ihren Füßen knirscht. Kleine Steinchen eben, Kies, Sand. Aber was dort wirklich unter den Füßen knirscht, sind die Reste verbrannter Menschen. (...) Was hier piekst, sind Knöchelchen. Jedes von einem anderen Menschen. Sie liegen dort auf den Wegen, weil sie beim Abtransport vom Lastwagen gerieselt sind. Man hat in Birkenau die Tümpel und Teiche damit aufgefüllt. Der Weg dorthin ist weiß. Du gehst über Tote und merkst es nicht. (...) So ein Knöchelchen hätte ich auch werden können." (S. 43)
Einerseits erlebte ich das Geschriebene als recht distanziert, andererseits gibt es gerade in der fast nüchtern-sachlichen Darstellung immer wieder Szenen, die schockieren und Übelkeit hervorrufen. Die schrecklichen Gräueltaten in Auschwitz natürlich, aber auch die geschilderten Gerichtsverhandlungen, in denen die Überlebenden in der Beweispflicht sind, ihre Glaubwürdigkeit immer wieder hinterfragt wird, sie gleichzeitig erneut die erlittenen Traumata durchleiden, dabei aber demonstrieren müssen, dass sie kein solch psychisches "Wrack" sind, dass man ihnen keinen Glauben schenken kann. Fürchterlich aber auch Heiners Schuldgefühl, überlebt zu haben, während er so viele in den Tod gehen sah. Und dazu die Frage, wie er Liebe empfinden und empfangen kann angesichts der erlittenen Gräuel und der Tatsache, dass er ein Überlebender ist.
"...so hat er Menschen umgebracht. Und vierhundertvierundachtzig Männer haben zugeschaut. Einer war ich, sagt Heiner. - Du hast es aushalten müssen. - Du willst hin springen, du willst ihm den Stock aus der Hand reißen, du willst ihn totschlagen (...), du willst schreien, du willst, du willst, du willst - aber willst du sterben? Willst du nicht. Du bist froh, dass du dort nicht liegst. Sein Tod ist dein Leben. Du starrst durch alles hindurch, rührst keine Hand, siehst alles und singst Eeeerika. Dafür schämst du dich dein ganzes Leben. - Du hast ihn nicht ermordet. - Kein Freispruch, Lena. Ich habe zugelassen, dass es geschieht und zugesehen, wie es geschieht. Meine Schuld ist, dass ich lebe." (S. 172)
Ich finde unglaublich gut herausgearbeitet, wie es Lena und Heiner in ihrer Beziehung und in ihrem Leben geht, immer wieder steht das Miteinander auf dem Prüfstand, weil der eine nicht aus seinen Erinnerungen heraus kommt oder auch nur herauskommen will, die andere die Erinnerungen nicht wirklich teilen kann und es ihr teilweise einfach auch zu viel wird. Bei einem Besuch in Polen bei anderen Überlebenden nehmen Heiner und Lena an heimlichen Untergrundaktionen der Solidarność teil, und dabei erfasst Lena erstmals ansatzweise, wie es ist, Angst und Mut zugleich zu haben, den Spitzeln und Panzern ins Gesicht zu sehen und doch Widerstand zu leisten. Und im Lager von Auschwitz gelingt es Heiner, ihr seine Erinnerungen wirklich ein wenig vor Augen zu führen - Lena sieht Bilder, die sie gleich wieder loswerden will, auch wenn es nicht zwangsläufig Heiners Bilder sind. Aber sie sind unangenehm genug. Lenas Frage - wer kann ich sein an der Seite eines gerade so überlebenden Opfers des Nationalsozialismus - wird wirklich deutlich vor Augen geführt.
"...aber Lena wusste nach fünf Jahren mit Heiner nicht mehr, wer sie war. Eine gut verdienende Dolmetscherin, eine gefragte Übersetzerin, eine Frau, die Menschen anzog - aber was noch? Ich bin nicht mehr einsfünfundsiebzig groß, sagte sie in der ersten Therapiestunde, noch ein paar Jahre und ich bin ein Zwerg. Ich lache nicht mehr in seiner Nähe, gegen seine Vergangenheit ist meine eine Kette von Banalitäten. (...) Er ist ein Überlebender, während ich nur lebe. Manchmal möchte ich stundenlang über Lippenstifte und Nagellack reden und über Filme, in denen man vor Lachen Bauchweh bekommt - aber irgendetwas bremst mich, wenn er in der Nähe ist. (...) Warum tun Sie das nicht, fragte die Therapeutin. Es ist obszön." (S. 105)
Ein beeindruckendes Buch, das Aspekte beleuchtet, die für mich bisher nicht im Fokus standen, wenn ich etwas über die Gräuel des Nationalsozialismus las. RU - Rückkehr unerwünscht. Und doch überlebt da jemand, der sich im Folgenden fragen muss: wie? Wörter, Geräusche, Gerüche, alles ruft unerwünschte Assoziationen und Erinnerungen hervor, Albträume gibt es fast in jeder Nacht, wirklich verstanden fühlt man sich nur von anderen Überlebenden, die Rückkehr nach Auschwitz ist wie ein Nachhausekommen. Und wie kann sich im Leben danach eine Beziehung gestalten, welche Chance hat eine Liebe, wenn immer nur die eine Lebensgeschichte zählt? Das Erinnern als Pflicht, als Last, als Vermächtnis. Das Glas mit dem besonderen Sand als Mahnmal - und ein Stück Heimat. Gegenwart und Erinnerung - beides muss möglich sein, so vermittelt es das Buch. Hilfreich ist dabei offenbar auch ein oftmals makabrer Humor, was mir gut gefallen hat.
Schließen möchte ich mit einem Zitat aus dem Nachwort von Margarete Mitscherlich:
"Was geschehen ist, ist geschehen, ausgeübt von einem Kulturvolk. Und dass es geschehen ist, bedeutet, dass es wieder geschehen kann. Menschen, und zwar kultivierte, kluge Menschen, sind zu Taten fähig, die wir ihnen nicht zugetraut haben. Und wo es irgendein Anzeichen, einen Hauch davon wieder geben könnte, müssen wir eingreifen. Unsere gottverdammte Pflicht nach Auschwitz ist, das niemals zu vergessen. Es bleibt ein ewiges Thema. Ich glaube nicht, dass wir aufhören sollten, uns damit zu beschäftigen." (S. 271)
Wie wahr!
© Parden