Rezension zu Das perfekte Leben des William Sidis von Morten Brask
Eine große Begabung kann auch ein Fluch sein....
von parden
Kurzmeinung: Erst Wunderkind, dann klügster Mann der Welt: Die unglaublich wahre Geschichte eines Genies, das lange fast vergessen war. Beeindruckend!
Rezension
pardenvor 7 Jahren
EINE GROSSE BEGABUNG KANN AUCH EIN FLUCH SEIN...
Albert Einstein hatte einen geschätzten IQ-Wert von 160-180 und war unbestritten eines der größten Genies des vergangenen Jahrhunderts. William Sidis, der fast zeitgleich zu Einstein lebte, hatte einen geschätzten IQ-Wert von 250-300. Und niemand kennt heute noch seinen Namen. Aber weshalb? Morten Brask widmet sich dieser Frage in seiner einfühlsamen, sorgfältig komponierten und hochliterarischen Biografie dieses längst vergessenen Hochbegabten.
Nach jahrelanger Recherche und basierend auf Artikeln, Büchern, Tagebüchern, Briefen und Gerichtsprotokollen, erzählt Morten Brask sehr bildlich und szenisch die wahre Geschichte von William Sidis, einem Sohn jüdischer Einwanderer aus der Ukraine. 1898 in New York geboren, wird William gleich nach seiner Geburt zum Studienobjekt seines Vaters. Um seinen Sohn zu befähigen, statt der üblichen 10% des Gehirns auch die übrigen 90% zu nutzen, bemüht sich der Psychologe Boris Sedis, William von klein auf eine fördernde Umgebung zu bieten. Denken und Argumentieren statt Spiel und Sport.
"Die Einschulung kommt viel zu spät, um anzufangen. Wenn die Kinder sechs sind, ist der kritische Punkt längst vorbei, die mentalen Funktionen des Kindes sind dann schlichtweg atrophiert und degeneriert. Und diesen Fehler dürfen wir nicht begehen. Ich finde, wir sollten Billy schon jetzt wie einen Erwachsenen behandeln, so als könnte er alles, was wir auch können."
Und die Erziehung greift: Mit 18 Monaten kann der kleine Billy Zeitung lesen. Mit vier liest er Caesar und Homer im Original. Nicht viel später spricht er fließend Russisch, Französisch, Deutsch, Hebräisch, Türkisch, Armenisch - sowie Vendergood, eine von ihm selbst erfundene Kunstsprache, komplett mit eigener Grammatik und Wörterbuch. Die Grundschule verlässt William nach gerade einmal sieben Monaten, die High School hat er nach drei Monaten hinter sich. Mit acht Jahren hat er Zugangsberechtigungen zum Massachusetts Institute of Technology sowie zum Medizinischen Institut in Harvard in der Tasche. Doch selbst die Eliteuniversitäten wissen nicht, wie sie mit dem Extrembegabten umgehen sollen. Erst nachdem Sidis mit 11 Jahren in Harvard einen Vortrag über seine Gedankengänge zur vierten Dimension hält, darf er dort mit dem Studium beginnen.
"Minuten vergehen, ehe der Beifall nachlässt, aber dann kommt die Kakophonie der Stimmen jäh wieder, die Professoren diskutieren über den Vortrag und über William. Einer nach dem anderen kommt und schüttelt Williams Hand und redet und redet, sie seien überwältigt, sagen sie, sie hätten nie etwas Derartiges erlebt; 'ein Licht', 'ein Genie' sind die Worte, die sie in Sätze flechten."
Doch mit 11 Jahren studieren? Was macht das mit einem Kind? Intellektuell war William sicher bereit dazu - er, der nicht nur mathematische und sprachliche Begabungen hatte (er sprach letztlich über 40 Sprachen fließend), sondern über ebenso gründliche Kenntnisse der Anatomie, Wirtschaft, Philologie, Jura, Geschichte, Politik und Astronomie verfügte. Aber emotional? Als Kind unter erwachsenen Studenten, ohne seine Eltern oder einen anderen Menschen, der ihn unter seine Fittiche nahm? Und dafür immer im Fokus der Presse, die William als Wunderkind präsentierte und auf immer neue Höchstleistungen wartete?
Morten Brask schildert eindrücklich diese Diskrepanz zwischen dem hohen Intellekt einerseits und dem Mangel an emotionaler Zuwendung andererseits. Als Projekt seiner Eltern hatte William Sidis niemals die Möglichkeit, einfach nur Kind zu sein - Sport wurde als unnütze Zeitverschwendung angesehen, ein gemeinsames Spielen mit anderen Kindern gab es nicht. Durch den stetigen Wechsel der Zeitebenen in der Erzählung zwischen der Kindheit und Jugend, dem Leben als jungem Erwachsenen und schließlich seinem letzten Lebensjahr, erhält der Leser hier einen zunehmenden Einblick in das Werden und Leben des William Sidis. Und Morten Brask schafft es, einem diesen hochintelligenten Menschen nahe zu bringen.
"Die Welt steht dir offen, William.Es kommt nur darauf an, dass du kluge Entscheidungen triffst."
Sidis kognitive Leistung ist sicher ein wesentlicher Teil dieser Geschichte und unstrittig faszinierend. Man bekommt als Leser tatsächlich ein Gefühl dafür, wie es ist, derart schlau zu sein. Diese Art, alles sofort zu berechnen, alles auf Anhieb zu verstehen, Verbindungen zu erkennen, auf die sonst kaum jemand kommt. Bei der Schilderung eines möglichen Zusammenhangs von Sonnenflecken und Revolutionen beispielsweise habe ich zunächst nur kopfschüttelnd gegrinst, bevor ich immer aufmerksamer gelesen und gestaunt habe. Doch manches habe ich auch nicht wirklich verstanden, wie z.B. in William Sidis Unterhaltung mit seinem Freund Scharfman, bei der es um Astronomie und um die Möglichkeit ging, die Kräfte der Natur umzukehren sowie um die mögliche Präsenz schwarzer Löcher im Universum. Mein IQ scheint sich einfach nicht in diese schwindelerregenden Bereiche zu erheben...
Ein ebenso wesentlicher Teil der Erzählung ist aber auch der übrige William Sidis, seine Gefühle, Interessen, Freunde, Liebe, Einsamkeit. Seine Hypersensibilität, die ihn sämtliche Gerüche, Geräusche, Wahrnehmungen um ein vielfaches stärker und intensiver empfinden lässt als andere. Das ständige Präsentiertwerden als Wunderkind schon in jungem Alter. Seine große und einzige Liebe, die so kurz währt, ihn jedoch ein Leben lang nicht loslässt. Seine erste Stelle als Mathematikdozent, die er aufgibt, weil er von seinen durchweg älteren Studenten ohne Unterlass gehänselt wird, obwohl er für sie eigens ein Lehrbuch verfasst hat (auf Altgriechisch). Auch eine andere Stelle kündigt er, weil er erst später erfährt, dass diese militärischen Zwecken dient - und Sidis ist glühender Pazifist. Seine Verhaftung und seine Anklage vor Gericht aufgrund der Teilnahme an einer ungenehmigten Demonstration der kommunistischen Bewegung. Die darauf folgenden Umerziehungsversuche seiner Eltern durch das Wegsperren in eine Psychiatrie, einschließlich des Verhinderns der Kontaktaufnahme zu Williams Freunden...
"Ich möchte ein perfektes Leben führen. Das perfekte Leben lässt sich nur in Abgeschiedenheit führen. Menschenmengen habe ich immer gehasst."
Auch wenn Morten Brask hier nicht angklagend schreibt, sondern in wohlgesetzten Formulierungen, eher nüchtern und emotionsarm, wird die wachsende Not Williams beim Lesen zunehmend spürbar. Und doch lässt der Autor die aufsteigende Traurigkeit des Lesers kaum einmal wirklich zu. Denn obschon William schlussendlich ein Leben in Einsamkeit verbringt - er kehrt seinen Eltern, sämtlichen ehrgeizigen Ambitionen und nicht zuletzt auch der hartnäckigen Presse rigoros den Rücken und lebt vollkommen anonym von häufig wechselnden Jobs als einfacher Büroangestellter, schreibt nur noch in seiner Freizeit Artikel und Bücher und widmet sich seiner Fahrkartensammlung - lebt er letztlich das Leben, zu dem er sich bewusst entschieden hat. In Sidis Augen: ein perfektes Leben.
"Es gibt wohl kein Leben, das richtiger ist als ein anderes. Man soll danach streben, das Leben zu wählen, das man selber für richtig hält, und wenn man das getan hat, ist das sicher eine Art Lebensperfektion."
Im Alter von 46 Jahren stirbt William Sidis an einer Hirnblutung - so einsam, wie er gelebt hat. Ich muss gestehen, dass ich das Buch mit einem Kloß im Hals schloss, nicht jedoch verbittert. Sondern mit dem Gedanken: Was wohl ist ein perfektes Leben? Ist es das Ausschöpfen aller Fähigkeiten, über die man verfügt? Nun, William Sidis hat sich für ein anderes perfektes Leben entschieden. Und dem zolle ich definitiv Respekt.
Eine beeindruckende Biografie über ein längst vergessenes Genie, die noch lange nachhallt...
© Parden
Albert Einstein hatte einen geschätzten IQ-Wert von 160-180 und war unbestritten eines der größten Genies des vergangenen Jahrhunderts. William Sidis, der fast zeitgleich zu Einstein lebte, hatte einen geschätzten IQ-Wert von 250-300. Und niemand kennt heute noch seinen Namen. Aber weshalb? Morten Brask widmet sich dieser Frage in seiner einfühlsamen, sorgfältig komponierten und hochliterarischen Biografie dieses längst vergessenen Hochbegabten.
Nach jahrelanger Recherche und basierend auf Artikeln, Büchern, Tagebüchern, Briefen und Gerichtsprotokollen, erzählt Morten Brask sehr bildlich und szenisch die wahre Geschichte von William Sidis, einem Sohn jüdischer Einwanderer aus der Ukraine. 1898 in New York geboren, wird William gleich nach seiner Geburt zum Studienobjekt seines Vaters. Um seinen Sohn zu befähigen, statt der üblichen 10% des Gehirns auch die übrigen 90% zu nutzen, bemüht sich der Psychologe Boris Sedis, William von klein auf eine fördernde Umgebung zu bieten. Denken und Argumentieren statt Spiel und Sport.
"Die Einschulung kommt viel zu spät, um anzufangen. Wenn die Kinder sechs sind, ist der kritische Punkt längst vorbei, die mentalen Funktionen des Kindes sind dann schlichtweg atrophiert und degeneriert. Und diesen Fehler dürfen wir nicht begehen. Ich finde, wir sollten Billy schon jetzt wie einen Erwachsenen behandeln, so als könnte er alles, was wir auch können."
Und die Erziehung greift: Mit 18 Monaten kann der kleine Billy Zeitung lesen. Mit vier liest er Caesar und Homer im Original. Nicht viel später spricht er fließend Russisch, Französisch, Deutsch, Hebräisch, Türkisch, Armenisch - sowie Vendergood, eine von ihm selbst erfundene Kunstsprache, komplett mit eigener Grammatik und Wörterbuch. Die Grundschule verlässt William nach gerade einmal sieben Monaten, die High School hat er nach drei Monaten hinter sich. Mit acht Jahren hat er Zugangsberechtigungen zum Massachusetts Institute of Technology sowie zum Medizinischen Institut in Harvard in der Tasche. Doch selbst die Eliteuniversitäten wissen nicht, wie sie mit dem Extrembegabten umgehen sollen. Erst nachdem Sidis mit 11 Jahren in Harvard einen Vortrag über seine Gedankengänge zur vierten Dimension hält, darf er dort mit dem Studium beginnen.
"Minuten vergehen, ehe der Beifall nachlässt, aber dann kommt die Kakophonie der Stimmen jäh wieder, die Professoren diskutieren über den Vortrag und über William. Einer nach dem anderen kommt und schüttelt Williams Hand und redet und redet, sie seien überwältigt, sagen sie, sie hätten nie etwas Derartiges erlebt; 'ein Licht', 'ein Genie' sind die Worte, die sie in Sätze flechten."
Doch mit 11 Jahren studieren? Was macht das mit einem Kind? Intellektuell war William sicher bereit dazu - er, der nicht nur mathematische und sprachliche Begabungen hatte (er sprach letztlich über 40 Sprachen fließend), sondern über ebenso gründliche Kenntnisse der Anatomie, Wirtschaft, Philologie, Jura, Geschichte, Politik und Astronomie verfügte. Aber emotional? Als Kind unter erwachsenen Studenten, ohne seine Eltern oder einen anderen Menschen, der ihn unter seine Fittiche nahm? Und dafür immer im Fokus der Presse, die William als Wunderkind präsentierte und auf immer neue Höchstleistungen wartete?
Morten Brask schildert eindrücklich diese Diskrepanz zwischen dem hohen Intellekt einerseits und dem Mangel an emotionaler Zuwendung andererseits. Als Projekt seiner Eltern hatte William Sidis niemals die Möglichkeit, einfach nur Kind zu sein - Sport wurde als unnütze Zeitverschwendung angesehen, ein gemeinsames Spielen mit anderen Kindern gab es nicht. Durch den stetigen Wechsel der Zeitebenen in der Erzählung zwischen der Kindheit und Jugend, dem Leben als jungem Erwachsenen und schließlich seinem letzten Lebensjahr, erhält der Leser hier einen zunehmenden Einblick in das Werden und Leben des William Sidis. Und Morten Brask schafft es, einem diesen hochintelligenten Menschen nahe zu bringen.
"Die Welt steht dir offen, William.Es kommt nur darauf an, dass du kluge Entscheidungen triffst."
Sidis kognitive Leistung ist sicher ein wesentlicher Teil dieser Geschichte und unstrittig faszinierend. Man bekommt als Leser tatsächlich ein Gefühl dafür, wie es ist, derart schlau zu sein. Diese Art, alles sofort zu berechnen, alles auf Anhieb zu verstehen, Verbindungen zu erkennen, auf die sonst kaum jemand kommt. Bei der Schilderung eines möglichen Zusammenhangs von Sonnenflecken und Revolutionen beispielsweise habe ich zunächst nur kopfschüttelnd gegrinst, bevor ich immer aufmerksamer gelesen und gestaunt habe. Doch manches habe ich auch nicht wirklich verstanden, wie z.B. in William Sidis Unterhaltung mit seinem Freund Scharfman, bei der es um Astronomie und um die Möglichkeit ging, die Kräfte der Natur umzukehren sowie um die mögliche Präsenz schwarzer Löcher im Universum. Mein IQ scheint sich einfach nicht in diese schwindelerregenden Bereiche zu erheben...
Ein ebenso wesentlicher Teil der Erzählung ist aber auch der übrige William Sidis, seine Gefühle, Interessen, Freunde, Liebe, Einsamkeit. Seine Hypersensibilität, die ihn sämtliche Gerüche, Geräusche, Wahrnehmungen um ein vielfaches stärker und intensiver empfinden lässt als andere. Das ständige Präsentiertwerden als Wunderkind schon in jungem Alter. Seine große und einzige Liebe, die so kurz währt, ihn jedoch ein Leben lang nicht loslässt. Seine erste Stelle als Mathematikdozent, die er aufgibt, weil er von seinen durchweg älteren Studenten ohne Unterlass gehänselt wird, obwohl er für sie eigens ein Lehrbuch verfasst hat (auf Altgriechisch). Auch eine andere Stelle kündigt er, weil er erst später erfährt, dass diese militärischen Zwecken dient - und Sidis ist glühender Pazifist. Seine Verhaftung und seine Anklage vor Gericht aufgrund der Teilnahme an einer ungenehmigten Demonstration der kommunistischen Bewegung. Die darauf folgenden Umerziehungsversuche seiner Eltern durch das Wegsperren in eine Psychiatrie, einschließlich des Verhinderns der Kontaktaufnahme zu Williams Freunden...
"Ich möchte ein perfektes Leben führen. Das perfekte Leben lässt sich nur in Abgeschiedenheit führen. Menschenmengen habe ich immer gehasst."
Auch wenn Morten Brask hier nicht angklagend schreibt, sondern in wohlgesetzten Formulierungen, eher nüchtern und emotionsarm, wird die wachsende Not Williams beim Lesen zunehmend spürbar. Und doch lässt der Autor die aufsteigende Traurigkeit des Lesers kaum einmal wirklich zu. Denn obschon William schlussendlich ein Leben in Einsamkeit verbringt - er kehrt seinen Eltern, sämtlichen ehrgeizigen Ambitionen und nicht zuletzt auch der hartnäckigen Presse rigoros den Rücken und lebt vollkommen anonym von häufig wechselnden Jobs als einfacher Büroangestellter, schreibt nur noch in seiner Freizeit Artikel und Bücher und widmet sich seiner Fahrkartensammlung - lebt er letztlich das Leben, zu dem er sich bewusst entschieden hat. In Sidis Augen: ein perfektes Leben.
"Es gibt wohl kein Leben, das richtiger ist als ein anderes. Man soll danach streben, das Leben zu wählen, das man selber für richtig hält, und wenn man das getan hat, ist das sicher eine Art Lebensperfektion."
Im Alter von 46 Jahren stirbt William Sidis an einer Hirnblutung - so einsam, wie er gelebt hat. Ich muss gestehen, dass ich das Buch mit einem Kloß im Hals schloss, nicht jedoch verbittert. Sondern mit dem Gedanken: Was wohl ist ein perfektes Leben? Ist es das Ausschöpfen aller Fähigkeiten, über die man verfügt? Nun, William Sidis hat sich für ein anderes perfektes Leben entschieden. Und dem zolle ich definitiv Respekt.
Eine beeindruckende Biografie über ein längst vergessenes Genie, die noch lange nachhallt...
© Parden