Rezension zu "Liebesgrüße aus Nordkorea" von Morten Traavik
Gib dem Volk ein Minimum an Autorität, und es wird sie bereitwillig dafür benutzen, andere zu überwachen.
Innerhalb eines Jahrzehnts ist Morten Traavik mehr als zwanzig Mal nach Nordkorea gereist, und zwar als offizieller Kulturattaché Norwegens. Er hat dort so verwegene Projekte auf die Beine gestellt wie Rockkonzerte, Kunstkooperationen und Schüleraustausche. 2017 musste er alle Beziehungen zum Land kappen, nachdem Kim Jong-Un seine neue Politik der Atomisierung und nationalen Abschottung weiter vorangetrieben hatte. Aber ein Gutes hat der Verlust aller Kontakte zum Land: Traavik konnte nun endlich aufschreiben, was er im abgeschottetsten Land der Welt erlebt hat, ohne Verfolgung oder Ausweisung zu befürchten.
Nordkorea ist ein Land, das auf uns Westler eine merkwürdige Faszination ausübt. Traavik analysiert ganz richtig, dass das Land noch immer als Heiliger Gral der Backpacker- und Individualtourismuscommunity gilt. Nicht ganz zu Unrecht, ehrlich gesagt, doch das beinahe voyeuristische Verhalten westlicher Touristen im Land, die Erwartung, endlich "hinter den Vorhang" blicken zu können, sind geradezu abstoßend. Dazu fiel mir eine Geschichte ein, die mir während eines Auslandspraktikum in Georgien passiert ist: Ein niederländischer Backpacker holte seine Zigaretten hervor, mit koreanischen Schriftzeichen darauf, und erzählte stolz, dass er die aus Nordkorea mitgebracht hat, wohin er kurz zuvor einen viertägigen Trip unternommen hatte. Als wäre die zerdrückte Packung mit übelriechenden, filterlosen Zigaretten der endgültige Beweis für a) die Existenz einer außerirdischen Lebensform, und b) seine eigene Überlegenheit als Reisender.
Sehr einleuchtend erklärt Traavik, dass da aber vielleicht gar kein Vorhang ist, dass Nordkorea sich mit dieser Geheimniskrämerei einfach nur vor der Weltgemeinschaft aufplustert. Und damit ist schon der erste Schritt getan, um dieses Land zu entmystifizieren.
Traavik ist es ein großes Anliegen, uns LeserInnen zu vermitteln: Auch in Nordkorea leben nur Menschen. Ein langer Brief an seinen Kumpel vor Ort - Pseudonym: Mr. Win - rahmt das, was Traavik uns aus Nordkorea zu erzählen hat. Dabei gelingt ihm ein unwiderstehlicher Mix aus Fakten (zu Geschichte, Politik und Gesellschaft) und eigenen Hautnah-Erfahrungen. Am Anfang habe ich diese Struktur zwar nicht ganz durchstiegen, aber nach und nach gewinnt das Ganze an Reiz und sorgt dafür, dass die Informationen auch hängenbleiben.
Traavik betrachtet vieles, was uns an diesem Land so merkwürdig und künstlich erscheint, und setzt es in den Vor-Ort-Kontext. Als Beispiel seien nur die beinahe roboterartigen Massengymnastik-Veranstaltungen genannt, die bei westlichen Zuschauern eher Verwirrung und Bestürzung auslösen ("So etwas kann doch nur durch rigoroses und brutales Training erreicht werden, unmenschlich so was!"), während die Nordkoreaner vor Stolz auf ihre Kinder fast platzen. Bei uns sind Fehler (gerade bei Kindern) süß, in Korea bedeuten sie Gesichtsverlust. Ja, auch im Süden. Es gelingt Traavik also ganz hervorragend, manche Dinge auch auf andere Faktoren zurückzuführen als ausschließlich auf die perfide Staatsführung.
Gleichzeitig verzichtet der Autor auf Kim-Bashing - davon haben wir schließlich schon genug in unseren Medien. Er zeigt detailliert, wie Kim Il-Sung an die Macht kommen konnte, und wie sein Sohn und sein Enkel das Erbe fortführen, teilt auch den ein oder anderen Ellenbogenhieb aus, verliert sich aber nie in Beschimpfungen oder Verunglimpfungen. Auf der anderen Seite setzt er sich auch kritisch mit den sogenannten "Flüchtlingen" auseinander, die nachweislich oft lügen, was ihre Aufenthalte in Straflagern o.Ä. anbelangt. Aber keine Sorge: Traavik relativiert nur, er leugnet nicht und will auch das System nicht in Schutz nehmen. Er ermöglicht uns schlicht und ergreifend einen realistischeren Blick mitten hinein nach Nordkorea.
Nicht zuletzt verstärken die außergewöhnlich authentischen Farbaufnahmen und Kochrezepte (die notwendigen Ingredienzien sind leider nicht ganz leicht zu beschaffen) den Eindruck, dass Nordkorea viel weniger dämonisch ist, als wir uns das hier vorstellen. Wie gesagt, die normalen Menschen dort sind einfach nur (so langweilig es klingen mag) normale Menschen. Sie besitzen Smartphones mit Minnie-Maus-Aufklebern, haben Dates im Park und betrinken sich gerne bei Karaokeabenden. Natürlich steht hinter allem ein kommunistisches Regime, das Meinungsfreiheit und Freizügigkeit nicht zulässt, aber was genau hat das mit den Menschen in den Pubs und Parks, Bars und Restaurants wirklich zu tun? Man hält sich eben an die Regeln, um ein einigermaßen angenehmes Leben führen zu können. Aber das ist dann durchaus möglich. Traavik hinterfragt auch die merkwürdige Erwartung westlicher Touristen, im Land mit "den einfachen Menschen" sprechen und ihnen so etwas wie ein Geständnis entlocken zu können - darüber, wie schrecklich und lächerlich sie ihr Land und ihr Leben finden, darüber, wie sehr sie leiden. Erstens ist das unglaublich anmaßend, zweitens würde sich sicherlich kein Nordkoreaner der Gefahr aussetzen, einem Westler irgendetwas von seinen innersten Gefühlen mitzuteilen, und drittens: Wann haben Touristen denn sonst jemals Kontakt mit "den einfachen Menschen"? Als Pauschaltourist sitzt man am Strand und hat höchstens Kontakt zu einheimischen Kellnern, Entertainern und Fahrern; als Backpacker bleibt man schön in der eigenen Blase und tauscht sich mit anderen Weitgereisten über die ach so tollen Erfahrungen aus. Aber in Sachen Nordkorea hat plötzlich jeder das Bedürfnis, derjenige zu sein, der "das Rätsel löst".
Traavik macht auch deutlich, dass wir Westler uns den normalen NordkoreanerInnen nicht überlegen zu fühlen brauchen, nur weil wir sie bemitleiden (wollen). Er erzählt von einem schockierenden Fall, bei dem ein Kameramann in seiner Begleitung ein diffamierendes Video von Kim Jong-Un auf seinem Handy hatte und damit beinahe eine diplomatische Katastrophe ausgelöst hätte - aus reiner Dummheit. Traavik macht klar, dass es eben einige ungeschriebene Regeln in Nordkorea gibt, und die der Führerverehrung ist die allerheiligste. Aber seien wir mal ehrlich: In Thailand, Urlaubsland Nr. 1 für uns Deutsche, steht auf Majestätsbeleidigung die Todesstrafe; in strengen muslimischen Ländern gilt die Darstellung und Beleidigung Mohameds als Kapitalverbrechen. Nordkorea ist kein so singuläres Element auf der Welt wie wir gerne annehmen. Traavik macht uns das in seinem großartigen Insiderbericht klar.
Mit viel Humor und fundiertem Hintergrundwissen bringt Traavik uns ein Land näher, von dem wir außer Horrornachrichten und skurrilen Geschichten kaum etwas wissen. Er liefert detaillierte Analysen zu den großen Themen - Straflager, Atombombentests, Otto Warmbier - und lässt den Leser gleichzeitig nicht in einem Meer aus Fakten ertrinken, sondern führt ihn gekonnt durch das Wirrwarr der (nord)koreanischen Geschichte und Politik - nicht zuletzt durch seine pointierten und hellsichtigen Insider-Erfahrungen. Unbedingt lesen!