Im zweiten Band der "Autobiographie des Giuliano Sansevero" von Andrea Giovene beginnt sich die Lebensgeschichte des Helden von der seines Schöpfers (soweit ich die auf Wikipedia nachvollziehe) an einigen Stellen zu trennen. In "Die Jahre zwischen Gut und Böse" löst sich Giovene vom Korsett des Authentischen und nimmt sich die Freiheit, die Geschehnisse nach literarischen Notwendigkeiten und persönlichem Gusto zu schildern. Dem Buch bekommt das gut, nach den etwas zögerlichen Kindheits- und Jugendjahren schöpft Giovene hier aus dem Vollen.
Zunächst folgen wir Giuliano Sansevero nach Mailand. Er hat seine Familie ziemlich überraschend verlassen, sein Studium in Neapel war ohnehin reiner Schein. Nachdem er etwas ziellos herumirrt, versucht er, seinen Lebensunterhalt als Journalist zu bestreiten, ein vielversprechendes Zeitschriftenprojekt steht in den Startlöchern. Giuliano ist völlig mittellos und lebt von der Hand in den Mund. Allerdings blockieren politische Kabale den Erfolg, Giuliano Sansevero muss sich für einen Artikel mit einem Portrait des Städtchens Peschiera rechtfertigen, der den faschistischen Kulturbürokraten nicht heroisch genug ausfällt. In seiner kleinen Pension lebt er Tür an Tür und dicht an dicht mit Prostituierten und Kleinkriminellen.
Als die Zeitschrift endgültig scheitert, empfiehlt ihm sein Onkel, endlich den Militärdienst abzuleisten und so begibt sich Giuliano nach Ferrara am Po, als Offiziersanwärter in einem elitären Kavallerieregiment. Er fügt sich in den Drill und die strenge Alltagsroutine, arrangiert sich mit unangenehmen Vorgesetzten und beginnt eine Affaire mit einer verheirateten Frau, mit deren gehörntem Ehemann er sich sogar standesgemäß duelliert.
Alles wäre bereit für eine klassische Karriere in der Armee, doch Giuliano entscheidet sich dagegen und geht stattdessen nach Rom, wo er in seltsame Kreise gerät: Im dubiosen Palazzo Grilli bezieht er ein Zimmer, seine Mitbewohner sind bohèmehafte Aristokraten, Kunsthistoriker, Dichter. Giuliano wird in philosophische Diskussionen gezogen und findet sich in merkwürdigen Dreieckskonstellationen wieder - erotischer und intellektueller Natur. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er mit Übersetzungen und dem Ghostwriting für akademische Abschlussarbeiten der unterschiedlichsten Fachrichtungen. Er spürt, wie ihm die negativen Einflüsse seiner Umgebung zusetzen und ihn abarbeiten und flieht schließlich nach Paris.
Hier findet er ein bequemes Auskommen als Cicerone für eine Gruppe peruanischer Millionärssöhne und verlebt sorglose Zeiten. Er hat eine Beziehung zu einer englischen Schauspielerin und genießt das pulsierende Paris der Zwischenkriegszeit. Als die Peruaner wieder nach Hause müssen und Giulianos Vater stirbt, reist er nach Neapel zurück.
Wer den zweiten Band von Giovenes "Autobiographie" liest, wird nicht mehr auf den Gedanken kommen, ihm mit Tomasis "Leoparden" zu vergleichen. Jedes der fünf Kapitel, jede Station ist eine Geschichte für sich, auch der Stil und selbst der Charakter des Giuliano scheint jedesmal ein anderer zu sein. Der aufstrebende Journalist aus Mailand, Kind seiner Zeit, wird zu dem jungen Offizier aus altem Hause, bei dem ich an Joseph Roths Familie Trotta denken muss oder an die armen Teufel bei Stefan Zweig und Arthur Schnitzler, seltsamerweise alles Gestalten aus Kakanien. Die schwüle Atmosphäre Roms im Palazzo Grilli lässt an Angelsächsisches denken: Henry James kommt in den Sinn oder E M Forster - grübelnde Gestalten in einer götterdämmerlichen Stimmung. Ganz anders Paris, das frisch lebt und lärmt, ein hedonistisches turbulentes Paradies. Und am Ende entkommt Giuliano doch nicht dem Familienschicksal und landet wieder im Neapel seiner Onkel, Tanten und Vorväter an.
Angelehnt an die Lebensstationen Giovenes finden wir hier unzweifelhaft eine ganze Menge an literarischer Formung und Gestaltung. Viel Reflexion, aber keine Thesen, das Thema ist die Suche nach dem geeigneten, nach dem richtigen, dem glückversprechenden Leben des Helden. Immer wieder erliegt er dem Idealbild einer Frau, das dann von der schnöden Wirklichkeit verwischt wird. Er hat kein Ziel, kein Ideal, er treibt von Station zu Station, schöpft aus den Facetten des Lebens und vielfältigen Begegnungen, die er reflektiert und verarbeitet. Giovene weigert sich, diesem Heldenleben ein Motto zu geben, ein Thema, ein erklärtes Ziel - und darin liegt eine eigene Methode, eine Philosophie der Demut, eine quasi augustinische Proklamation des eigenen Scheiterns und permanenten Neubeginns. Und das auf bemerkenswertem stilistischen Niveau.