Rezension zu "Der gelbe Vogel" von Myron Levoy
Als Kind habe ich viele Bücher über die Shoah und den zweiten Weltkrieg gelesen. Als Ausdruck eines „Nie wieder“, das in meiner Familie immer klar war, und auch, um irgendwie das Grauen zu verstehen, eben, dass Antisemitismus und Faschismus NIE WIEDER geschieht.
„Der gelbe Vogel“ hat mich als Kind am allermeisten von all diesen Kinderbüchern berührt. Die Geschichte zeigt nämlich, dass das Grauen nicht einfach mit der Befreiung der KZs oder dem Kriegsende endete. Die Überlebenden haben überlebt, aber trugen und tragen diese Erlebnisse mit sich weiter in ihren weiteren Lebensweg. Das Buch liegt mir so am Herzen, dass ich es nachgekauft habe, als es bei einem Umzug mal verloren geglaubt ging. Und dennoch habe ich nach mehrfacher Lektüre im Alter von vielleicht 10 bis 19 seit meiner Jugend nicht noch einmal gelesen. Dieses Buch hat mich so sehr bewegt, dass ich fürchtete, es würde meinem Blick als Erwachsene nicht mehr standhalten. Ich war mir dann nicht einmal mehr sicher, ob es ein Buch über die Shoah war, oder diesen Teil ausklammert, weil Naomis Vater bei der Résistance war. Das Buch tut das zum Glück nicht, aber das war mir nicht einmal mehr bewusst.
Als dann dieses Hörbuch erschien, habe ich mich endlich an eine erneute Lektüre getraut. Und erneut hat mich das Buch tief bewegt. Die Lesung von Jeremias Koschorz passt einfach wundervoll. Die Geschichte ist von Myron Levoy wirklich klug gebaut: Hauptfigur ist nicht Naomi selbst, sondern der US-amerikanische, jüdische Junge Alan (quasi die Own-Voice des Autors selbst). Alan er ist der Beobachter, den seine Eltern sanft überreden, sich um das schwer traumatisierte Mädchen zu kümmern. Stark sind dabei die Gespräche mit seinem Vater, der ihm letztendlich die moralische Entscheidung völlig überlässt. Hier wird auf Augenhöhe argumentiert, was für ein positives Bild von Kindern und Jugendlichen schon 1977 vermittelt wird. Auch ansonsten hielt für mich das Buch (fast komplett) einer heutigen Sichtweise stand. Einzig das teilweise etwas klischierte Bild von Jungen und Mädchen fand ich nicht immer ganz passend, aber selbst dies bricht der Autor selbst wieder auf. Das ist etwas, das Alan lernen muss. Und er wird auch nicht zum glorreichen Retter von Naomi, sie rettet sich mit seiner Hilfe selbst. Bis…. und bis, und da wird es bitter und traurig und deutlich, dass wir den Dämonen des Traumas nicht immer entfliehen können. Ein Moment der Unachtsamkeit kann eine Kaskade von Ereignissen in Gang setzen. Ich habe, wie schon als Kind und als Jugendliche, nun auch als Erwachsene geweint. Geweint, um die Toten und geweint um die Überlebenden.
Ich werde es demnächst mit meinem Sohn lesen. Ich scheue mich noch davor, weil ich weiß, wie sehr mich das Buch als Kind mitgenommen hat. Aber es ist so geschrieben, dass es Kinder verkraften können, weil sie spüren können, dass Menschen auch aus dem Trauma wieder ins Leben kommen können.
Ein wundervolles Buch, das sehr einfühlsam zeigt, was Trauma bedeutet. Das wichtigste Buch meiner Kindheit empfehle ich auch nach meiner Lektüre als Erwachsene von ganzem Herzen weiter. Wir müssen alle dazu beitragen, dass „Nie wieder“ auch „Nie wieder“ heißt. Gegen jeden Antisemitismus und gegen jede Menschenfeindlichkeit.