Rezension zu "Wohin ich immer gehe" von Nadine Schneider
Der Anfang: «Johannes hatte einen wiederkehrenden Traum. Er träumte, dass sie ihn im Wasser erschossen. Dass sie ihn trafen, während er untergetaucht war, und er nicht mehr genug Kraft hatte, an die Oberfläche zurückzuschwimmen. In dem Moment, als sich die Kugel in seinen Rücken bohrte, wusste er, dass er sterben würde. Er spürte ein Stechen zwischen den Schulterblättern und bog sich nach hinten. Öffnete den Mund, atmete Wasser ein, dachte, ich sterbe, und wachte auf.»
Sie sind beste Freunde und wollten weg aus Rumänien, aber dann war David verschwunden und Johannes musste alleine fliehen. Über die Donau schwimmen am sogenannten Eisernen Tor, einer der engsten und für die Schifffahrt gefährlichsten Stellen der Donau im Grenzgebiet von Rumänien zu Serbien; sie hatten dafür trainiert und er hatte es geschafft, er hat die Ceauşescu-Diktatur hinter sich gelassen. Die erste Zeit in Deutschland war hart: Johannes war in einem Auffanglager für Flüchtlinge als Angehöriger einer deutschen Minderheit gelandet, jobbte als Hilfsarbeiter, bis er die Chance zu einer Ausbildung zum Hörgeräteakustiker erhält. Heute ist er integriert, hat einen guten Job – doch seine Vergangenheit belastet ihn noch heute. Als ihn eines Tages die Nachricht vom Tod seines Vaters erreicht, kehrt er zur Beerdigung zurück nach Banat in die Heimat. Wie hatte die Mutter ihn gefunden? Er hatte nie Kontakt mit der Familie aufgenommen, auch nicht nach dem Regimezusammenbruch. Was war damals geschehen?
«Wie eine Hand packte ihn die Strömung und zog ihn ruckartig nach links, in die Richtung, aus der das Boot kommen würde. Er begann, dagegen anzuschwimmen, und Wasser schlug ihm ins Gesicht. Er presste die Lippen zusammen, doch mit der nächsten Welle drang es ihm in Nase und Augen. Er hustete und spuckte. Bunte Punkte flimmerten in der Dunkelheit. Er hörte auf zu schwimmen, umklammerte den Reifen und rang nach Atem.»
Nadine Schneider erzählt in der dritten Person. Erinnerungen an die Vergangenheit, Spurensuche nach Identität und nach David – sie geht tief in die Zerrissenheit des Charakters hinein. Die Flucht aus einem «System, das einem keine Zukunftsoptionen bietet, das enorm in die Privatsphäre eingreift». Schwerhörigkeit und das Schwimmen ziehen sich durch die gesamte Familie, das Überwasserhalten in schweren Zeiten, das Abtauchen und Untergehen. Die Familie, die Großmutter mütterlicherseits und die väterlicherseits; arm und reich, Gegenpole. Der Vater, ein gewalttätiger Säufer, ein Bruder, der sich im Gemüsegarten erschossen hat; der Freund, der mehr als ein Freund war. Familie, Freundschaft, Verlust, Verrat, Verachtung. Geschickt lässt die Autorin Leerstellen. Völlig unaufgeregt blättert sie die Geschichte von vorn nach hinten auf. Eine unausgesprochene Feindseligkeit an allen Ecken brodelt im Untergrund bis zum wirklich bitteren Ende. Johannes wird erfahren, was damals geschah, und er ist genauso geschockt wie der Lesende.
«Man konnte seine Familie verlassen, man konnte hunderte von Kilometern zwischen sich und die Orte seiner Kindheit bringen, man konnte gut vergessen üben, mit einem tückischen Fluss im Rücken, der einen trennte von den ganzen Verwandten und Verschwägerten, von den Blutsbanden, den Wie-aus-dem-Gesicht-Geschnittenen, aber eine Familie ließ sich so leicht nicht loswerden. Sie hatte ihre eigenen Wege und früher oder später begegnete man ihr auf einem dieser Wege wieder.»
Der Debütroman «Drei Kilometer» hatte mir bereits sehr gefallen. Und dieser hier ist genauso gut. Nadine Schneider beginnt sanft, lässt ein paar Wellen tänzeln, bevor sie zum Sturm aufbläst. Die spannende Flucht, es folgt das neue Leben, lustlos grüßt täglich das Murmeltier, in der Nacht quälen Träume. Die Rückkehr in das Land, in dem man alles zurückließ, jahrelang ausgesperrt aus der Erinnerung, blättert sich nun vor dem Protagonisten auf. Die Landschaft hat sich nicht verändert. Und wie sieht es mit den Menschen aus? Rückblenden, Erinnerungen, Puzzleteile setzen sich für den Leser zusammen, füllen sich mit Unausgesprochenem. Eine distanzierte Familie, eine verschnupfte Mutter, lästige Verwandte, eine verstummte Großmutter, die kaum noch etwas hört – schon gar nicht etwas hören will. David und seine Familie wie ausgelöscht – die waren eines Tages weg. Eben weg. Wie Johannes. Der war eines Tages ebenfalls verschwunden. Ein geschickt konstruierter Roman mit Tiefgang, handwerklich fein ausgearbeitet. Ein Genuss, diesen Roman zu lesen, Empfehlung!
«In Familien lebt man eine Weile, fühlt sich aufgehoben oder nicht. Man erträgt Einiges und überhört Vieles, man steht selten einfach auf und geht. Man sagt kaum einmal, was man wirklich denkt, wundert sich über die Menschen, die man, würde man ihnen als Fremde an einem Ort zufällig begegnen, vermutlich kein zweites Mal sehen wollen würde. Man liebt, obwohl man nicht will, und man verachtet noch leidenschaftlicher. In Familien stirbt man.»
Nadine Schneider studierte Musikwissenschaft und Germanistik in Regensburg, Cremona und Berlin. Ihr erster Roman Drei Kilometer (2019) wurde u.a. mit dem Hermann-Hesse-Förderpreis und dem Literaturpreis der Stadt Fulda ausgezeichnet. Nach Stationen an der Komischen Oper und der Vaganten Bühne Berlin arbeitete sie für den Bundeswettbewerb Gesang. Nadine Schneider lebt in Nürnberg.