Cover des Buches Einfach abgehängt (ISBN: 9783871345524)
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Rezension zu Einfach abgehängt von Nadja Klinger

Rezension zu "Einfach abgehängt" von Nadja Klinger

von aichlinn vor 16 Jahren

Rezension

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aichlinnvor 16 Jahren
„Du bist Deutschland“ - ein Slogan, der uns Vertrautheit signalisieren und zur Verantwortung für ein Land aufrufen soll, in dem jeder ein Teil des Ganzen ist. Aber wenn JEDER Deutschland ist, dürfen wir nicht die 11 Millionen Menschen vergessen, die arm, oder zumindest von Armut bedroht sind. 7 Millionen Deutsche leben auf Sozialhilfeniveau, 3 Millionen Haushalte sind überschuldet. In Westdeutschland lebt jedes achte Kind in Armut, im Osten sogar jedes vierte. Auch das ist Deutschland. Warum gibt es trotzdem noch keine vernünftige Armutspolitik? Warum schauen wir immer noch weg, wenn jemand im Müll nach Verwertbarem sucht? Warum denken immer noch die meisten, sie könne es nicht treffen? Ständig öffnen neue, noch größere Kaufhäuser ihre Pforten. Stadtbilder verändern sich, weil Häuser instandgesetzt und Fassaden verschönert werden. Und wir verbringen unseren Urlaub in Neuseeland, auf Mallorca oder wenigstens im Bayerischen Wald. Aber: „Weder gibt es mehr Arbeit noch mehr Gerechtigkeit. Dafür sieht Mangel heute schöner aus.“, nachzulesen in „Einfach abgehängt: ein wahrer Bericht über die neue Armut in Deutschland“ von Nadja Klinger und Jens König. Auf 254 Seiten schreiben die Autoren über ein Land, das so viel Geld für Sozialpolitik ausgibt, wie kaum ein anderes, und dabei trotzdem so erfolglos bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist; wo in „Jobcentern“ „Kunden“ von „Case Managern“ vermittelt werden sollen, die Empfangsdamen „Scouts“ heißen und man sich bei Beschwerden an das „Kundenreaktionsmanagement“ wendet. Nadja Klinger und Jens König wollen die Perspektive auf Armut ändern. Sie reden mit den Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen und beschreiben die Welt durch deren Augen. Die persönlichen Schicksale geben den erschreckenden Zahlen ein Gesicht. Angelika Fischer zum Beispiel, gelernte Stenotypistin, ist seit 1990 arbeitslos und erfüllt nicht die Klischees, mit denen Langzeitarbeitslose oft zu kämpfen haben. Sie engagiert sich im Arbeitskreis Gewalt gegen Frauen und Mädchen, beim Frauennotruf, in der Frauenbibliothek, ist im Vorstand des Hauses der Demokratie tätig und kümmert sich um Streitschlichter an Leipziger Schulen. Alles ehrenamtlich, eine bezahlte Arbeits sprang für sie bis jetzt nicht heraus, obwohl sie rund um die Uhr zu tun hat. Damit Politik nicht mehr nur „Rolle der Bordapotheke auf der Titanic“ spielt, muss umgedacht werden. Die Autoren bieten interessante Denkansätze. So sollte sich Politik nicht am alten Sozialstaat orientieren, der falsche Anreize bietet, durch finanzielle Transfers von staatlicher Hilfe abhängig macht und die Menschen zu wenig fördert. Sie darf sich auch nicht nur an der Mittelschicht orientieren, auch wenn diese die größte Wählerschaft stellt. Sozial Schwache werden zu selten berücksichtigt (Beispiel Elterngeld). Armutspolitik als Querschnittspolitik, die resortübergreifendes Handeln erfordert, muss auch Bildungspolitik sein. Arbeit, Einkommen und Lebensqualität sind abhängig von Bildungsqualifikationen, für die schon im Kindergarten Grundlagen gelegt werden müssen. Armutspolitik bedeutet aber vor allem RESPEKT. Und hier sind wir alle gefragt. Erst wenn jedem Einzelnen klar wird, dass Armut nicht länger an den Rand der Gesellschaft abgedrängt werden kann, weil sie mitten unter uns ist, kann eine Armutspolitik auch funktionieren.
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