Opfer wider Willen – Natascha Kampusch schreibt über ihr Leben zehn Jahre nach ihrer Selbstbefreiung / Ein Kommentar (2016)
,Du bist ein Opfer, weil wir das so wollen!‘ – diesen Gedanken hatte ich ganz oft, als ich das zweite Buch von Natascha Kampusch »10 Jahre Freiheit« las. Genauso oft dachte ich: ,Ja, stimmt.‘ oder ,Diesen Eindruck habe ich auch.‘ Aber letztlich führte dieses viele Kopfnicken und Seufzen zu jenem Gedanken, der mich stets beim Schreiben meiner Jugendbücher begleitet: ,Das ist alles kein Quatsch, das ist alles kein Hirngespinst, das ist alles das, was ganz genau so vor unseren Augen geschieht.‘
Es wird aber so gerne weggesehen und viel lieber der Mund gehalten. Oder man will es eben nicht wahrhaben, selbst wenn die Beweise erdrückend sind. Wenn dann noch ein Opfer aus eigener Stärke heraus sich von den Fesseln seiner Unterdrückung befreit und ein neues, freies und selbstbestimmtes Leben beginnt, scheint es für viele Menschen nicht zu akzeptieren, nicht auszuhalten zu sein. Wahrscheinlich weil sie ihrer eignen Schwächen bewusst sind. Sie selbst hätten die Jahre im Verlies vielleicht nicht überlebt. Hätten sich nicht wie Natascha Kampusch im dem Maße entwickelt, dass sie irgendwann über dem Täter gestanden und dessen Fehler sich zu Nutze gemacht hätten. Um dann schließlich im passenden Moment in die Freiheit zu laufen. Natascha Kampusch hat das geschafft. Weil sie bereits als Kind eine starke Persönlichkeit hatte und sich selber damals schon so gut kannte, dass sie all den Schrecken auszuhalten vermochte.
Ich glaube einfach, die meisten Menschen können das nicht. Sie erkennen Natascha Kampusch als eine der Anderen und eben nicht als eine der Ihren. Deshalb muss die Außenseiterin Kampusch denunziert und verleumdet werden. Sie muss selbst für ihre Entführung gesorgt haben, sie muss ein Kind bekommen und getötet haben und sie muss ihre Zeit beim Täter Priklopil genossen haben, denn wie hätte sie sonst so offensichtlich unbeschadet die Zeit bei ihm überstehen können. Verweise auf Zeitungsartikel, auf Kommentare in den sozialen Netzwerken und auf Fernsehinterviews belegen, was die junge Frau in den letzten zehn Jahren alles auszuhalten hatte. Ich gebe Natascha Kampusch recht, wenn sie schreibt: » ... weil ich einigen Menschen oder Teilen der Gesellschaft unbewusst einen Spiegel vorgehalten habe. Der Blick hinein hat Angst gemacht. Angst vor Abgründen, vor Verdrängung, aber auch vor dem Zulassen von Stärke und Schwäche.« Damit hat sie etliche Menschen provoziert und ist zudem eben nicht in die Opferrolle zurückgefallen, in der sie einige gerne sehen würden. Natascha Kampusch hat aber gerade wegen ihrer starken Persönlichkeit überlebt. Man sollte sie bewundern und nicht verachten.
Ich habe bereits viele Bücher gelesen, in denen Opfer über ihre Erlebnisse berichten. Und es sind genau diese Berichte, die das Unzumutbare aus dem Kellerloch ans Tageslicht bringen und uns ungeschönt das vor Augen führen, was wir doch alle längst wissen. Es muss ganz einfach die Angst vor der Wahrheit sein, wenn einige Menschen sich über das Veröffentlichen dieser Grausamkeiten aufregen. Aber ich finde es richtig und auch wichtig, sich mit den Schattenseiten in der Gesellschaft auseinanderzusetzen.