"Mein Leben lang hatte ich mich benachteiligt gefühlt, weil ich keine Familie hatte, aber das war nur deshalb so gewesen, weil ich nicht gewusst hatte, dass ich ein glücklicher Mensch war ohne diesen ganzen Ballast." So lautet eine Selbsterkenntnis der Autorin in ihrem neuesten Werk.
Natascha Wodin, 1945 in Fürth als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter geboren, erzählt in „Sie kam aus Mariupol“ die bewegende und tragische Geschichte ihrer Familie. Das Buch ist eine Mischung aus autobiografischem Roman und detaillierter genealogischer Recherche. Trotz des bedeutsamen Themas hinterlässt die Lektüre jedoch einen insgesamt enttäuschenden Eindruck, auch für die Leserschaft ist reichlich Ballast zwischen den beiden Buchdeckeln enthalten.
Der erste Teil des Buches widmet sich minutiös der Ahnenforschung der Autorin. Diese Abschnitte sind oft langweilig und verwirrend, insbesondere aufgrund der zahlreichen russischen Namen. Ein Stammbaum hätte hier wesentlich zur Orientierung beigetragen und geholfen, die komplexen familiären Verbindungen besser zu verstehen. Die detaillierte, immer wieder sprunghaft erzählte Familiengeschichte bremst den Lesefluss und erschwert das Eintauchen in die Erzählung.
Der zweite Teil des Buches befasst sich mit der Geschichte Russlands und der Sowjetunion, einschließlich der Revolution, dem Ende des Zarenreichs, Enteignungen, Zwangsarbeit und Umsiedlungen. Auch hier bleibt die Erzählung oft schwer verständlich, insbesondere ohne umfangreiches historisches Hintergrundwissen. Die Vielzahl an Ereignissen und Personen tragen zur Komplexität bei und machen es schwierig, der Geschichte gut folgen zu können.
Im dritten Teil wird die Story persönlicher und fokussiert sich auf Wodins Kindheit und Jugend in Deutschland sowie auf den frühen Selbstmord ihrer Mutter, als die Autorin erst elf Jahre alt war. Diese Passagen sind emotionaler und bieten einen tieferen Einblick in die persönlichen Tragödien der Familie. Doch auch hier bleibt die Lektüre herausfordernd. Die Autorin beschreibt detailliert Familienfotos, die nur teilweise und oft an völlig anderer Stelle im Text abgebildet sind, was es schwer macht, sich zurecht zu finden. Zudem sind viele Passagen von Vermutungen geprägt und in einem langatmigen, anklagenden Ton gehalten, was das Lesen für mich zusätzlich erschwert hat.
Die Geschichte von Natascha Wodins Familie ist zweifellos erschütternd und bedauernswert. Sie wurde sowohl durch die Weltpolitik als auch durch persönliche Umstände schwer gezeichnet. Doch die literarische Umsetzung dieses harten Schicksals in eine gut lesbare und fesselnde Erzählung ist nur teilweise gelungen. Das Buch fordert von Leserinnen und Lesern viel Geduld und Ausdauer, und trotz der bedeutenden Thematik bleibt der Gesamteindruck zwiespältig.
Fazit: „Sie kam aus Mariupol“ bietet einen wichtigen und bewegenden Einblick in die Geschichte einer Familie, die durch die politischen und sozialen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts tief geprägt wurde. Leider leidet die Lektüre unter einer übermäßigen Detailverliebtheit und einer komplexen Erzählweise, die es schwierig machen, sich in die Geschichte hineinzufinden. Die literarische Umsetzung, dieses harte Los in gute Literatur zu fassen ist nur teils gelungen.