Nathanael Riemer

Lebenslauf

Nathanael Riemer war Juniorprofessor für Jüdische Studien an der Universität Potsdam. In den letzten Jahren gilt seine Aufmerksamkeit der Verschränkung zwischen den Geisteswissenschaften mit der digitalen Welt.

Quelle: Verlag / vlb

Alle Bücher von Nathanael Riemer

Cover des Buches Seine Exzellenz der Android (ISBN: 9783949671067)

Seine Exzellenz der Android

 (3)
Erschienen am 13.03.2023

Neue Rezensionen zu Nathanael Riemer

Cover des Buches Seine Exzellenz der Android (ISBN: 9783949671067)
awogflis avatar

Rezension zu "Seine Exzellenz der Android" von Leo Gilbert

Die Geister die ich rief - erster Roman über einen Androiden
awogflivor 2 Monaten

Ich möchte Euch ein verschüttetes historisches Schmankerl vorstellen: den ersten Roman über einen Androiden aus dem Jahr 1907 vom österreichischen Wissenschaftsjournalisten Leo Gilbert, eigentlich Leo Silberstein. Durch die Nazis wurde dieses Stück grandiose Literatur derart nachhaltig aus der Öffentlichkeit eliminiert, dass bis zu diesem Jahr nur noch drei Exemplare in europäischen Bibliotheken auffindbar waren. Der Herausgeber, Nathanael Riemer, hat den Roman aufgespürt und dankenswerterweise wieder in die Öffentlichkeit gebracht. Das freut mich sehr, denn das Buch ist es wirklich wert, wiederentdeckt zu werden.

In der ersten Szene fühlen die Bewohner eines Wiener Mietshauses dem seltsamen Sonderling aus dem letzten Stock detektivisch auf den Zahn. Sie dringen in seine Wohnung ein und werden von Apparaturen angegriffen. Der Mieter, Frithjof Anderson, will den Frieden in der Hausgemeinschaft wiederherstellen und präsentiert den erstaunten Mitbewohnern seine Arbeit. Er hat sehr viele mechanische Roboter konstruiert und arbeitet an einem Androiden. Der Fabrikdirektor samt Ehefrau, seine zwei Töchter, von denen eine Physik studiert und die andere eine wunderschöne blonde Augenweide ist, der Fabrikanteilseigner Woppel und noch ein paar Personen hören aufmerksam zu und begutachten die Werkstücke. Anderson hat sogar so etwas wie das heutige Excel erfunden, aber nur hinsichtlich Funktionalität, „Was-wäre-wenn-Rechnungen“ mit Formeln und variablen Eingaben zu erzeugen, von der Optik her schaut das Kalkulationsprogramm aus 1907 aus wie eine Kaffeemaschine. Das war zum Auftakt ganz großes Kino an Vorstellungskraft und guter Literatur mit ironischem Stil.

Anschließend macht die Story bedauerlicherweise eine Vollbremsung. Die Hausgemeinschaft trifft sich während der Sommerfrische in den Bergen von Toblach. Gesellschaftsklatsch, Flirterei, Geschäftsanbahnung, Intrigen. Leider nicht so gut gelungen, dieser Part, obwohl er für den Plot relevant ist, aber sorry, das kann der Schnitzler, den Gilbert hier zu imitieren versucht, einfach am besten, alle anderen stinken da ab, wenn es um perfekte Darstellung von österreichischem Gesellschaftsgeschwätz geht. Die Sommerfrischediskussionen über Maschinen und Philosophie der Bildungsbürger versuchen meiner Meinung nach noch eine weitere literarische Anlehnung, nämlich an Dostojewski und das brachte mich ein bisschen zum Gähnen. Langweilige, bildungsbürgerliche, verkopfte Menschen, die auf intellektuell machen, hochtrabend und larmoyant herumschwadronieren, anstatt sich zu betätigen. Hier scheitert der Autor vorläufig an seinen Vorbildern.

Dazwischen passiert aber dennoch etwas, denn der Gilbert kann durchaus Dramaturgie. Der Diener von Frithjof Anderson ist in Nöten und der Erfinder muss zwischenzeitlich abreisen. Hier liefert uns der Autor eine grandiose Beschreibung einer multiplen Persönlichkeitsstörung.

Sobald der Android eingeschaltet ist, packt Gilbert sein eigentliches literarisches Talent aus, das in Dramaturgie, Ironie mit feiner Klinge und Politik- und Gesellschaftskritik liegt. Doktor Frithjof präsentiert den fertiggestellten Androiden einer kleinen Gesellschaft von Investoren. Der Erfinder hat aber einen kapitalen Fehler gemacht, beziehungsweise gewisse Eventualitäten nicht bedacht. Die Maschine, die wie ein Mensch aussieht – mit Haut und Blutgefäßen, – läuft wie ein Perpetuum Mobile 10 Jahre lang ohne Eingriff, sie wehrt sich mit Gewalt gegen die Abschaltung seines Meisters, durch einen Schalter an der Hüfte, läuft davon und taucht in der Stadt unter. Der Android stiehlt Frithjof dann als angeblicher Verwandter Lars Anderson auch noch ein bisschen die Identität, während Meister in die Psychiatrie kommt, weil ihm keiner diese abgefahrene Geschichte glaubt

Aber es kommt noch besser. Doktor Frithjof hat dem Androiden Lars politische Ideen einprogrammiert, die vierte Macht des Staates, die gesamte Presse durch Gelder der Industrie zu korrumpieren (Und wir dachten, Inseratenkorruption wurde in der Neuzeit erfunden). Lars ist mit diesem Geschäftsmodell so erfolgreich, dass er zum wohlhabenden Mann wird, als Berater der Regierung fungiert und seinem Schöpfer Frithjof sogar die Verlobte abnimmt, die eitle, geldgierige, wunderschöne, blonde Tochter des Direktors – was für eine Plotidee, gewürzt mit wundervollem politischem Hintergrund. Doch das ist noch nicht das Ende der Demütigungen. Herrlich! Der erfolgreiche Android steigt im Staat auf, wird Minister, von vielen Speichelleckern umgeben und bietet seinem gescheiterten, düpierten, verarmten Schöpfer auch noch generös einen Sekretärposten an. Das hat so viele Goethe Vibes.


Dass ein Mechaniker, der eine Maschine baut, zu seinem Werkstück in dieses komische unglaubliche Verhältnis, geradezu in Abhängigkeit geraten könne, war ihm noch immer unfaßbar. Aber so weit er es faßte, von einem unendlichen Humor. Er kam sich vor wie der Zauberlehrling, der den tückisch gewordenen Besen nicht mehr meistern kann.


😂😂

Am Ende zettelt Lars als Werkzeug der Industrie noch einen Krieg an, den Frithjof verhindern muss. Das Finale ist sensationell und nimmt auch die Stimmung von 1914 in der österreichischen Gesellschaft vorweg, als alle völlig kriegsgeil waren, nicht nur Industrie, sondern auch Presse und Bevölkerung. Sogar das Finale und wie der Erfinder die Vernichtung seiner eigenen Kreatur gegen die gesamte Gesellschaft meistert, ist extrem spannend beschrieben.

Auch sprachlich ist der Roman sehr ansprechend, die Ironie wird mit feiner Klinge geführt. Hier wird Gesellschaftskritik auf hohem Niveau präsentiert. Ach ja, über die alte Rechtschreibung muss die Leserschaft hinwegkommen, hier wurde nichts ausgebessert, sondern das Werk im Original belassen.


Frithjof konnte sich nicht finden, dann brach er plötzlich in ein Lachen aus, das fast unheimlich, wie aus einem gestörten Geiste heraus, klang: „Ohne Herz konnte der Android ein berühmter Großindustrieller werden, ohne Hirn sogar Minister! Er eignet sich jetzt trefflich dazu: Keine Ideen und lauter Versprechungen!! […] Von wie vielen Räten, Sekretären, Günstlingen und Mätressen – die nicht einmal seine Mätressen sind – wird er jetzt hin und her geschoben werden.?!“ […]
Der Staat konnte am besten von einem Automaten gelenkt werden; der androidale Staat von einem Androiden. Jeder neu gebackene Minister, der sich nur einige Tage im Ministersessel eingewärmt hat, kriegt es bald heraus, daß in einem Staate eigentlich ungeheuer viel automatisch vor sich geht. […] Die Beamten zu deren Lebensnotdurft es gehört, Beamte zu sein, bemühen sich natürlich vor allem, die ungeheure Notwendigkeit ihrer Existenz praktisch darzutun. Und zwar durch zähes Festhalten am eingerosteten Automatismus.


Wenn man zudem auch noch bedenkt, wieviele Jahre der Roman schon auf dem Buckel hat und hier technische Möglichkeiten, die es um die Jahrhundertwende um 1900 gab, so grandios antizipiert werden, dann kann ich vor so einer korrekten, konsistenten, grandiosen Imagination nur den Hut ziehen. Hier stimmt auch logisch technisch alles, was damals mit den Möglichkeiten der Zeit als Science Fiction angedacht werden konnte. Zudem geht das gesellschaftlich-politische Lehrstück des Plots, weit über eine technokratische Sci-Fi-Erzählung hinaus.

Fazit: In der Endabrechnung ein grandioses historisches Werk, es braucht nur ein bisschen Geduld, weil die Geschichte zu Beginn einfach nicht in die Puschen kommt. Leseempfehlung von mir und den Rat dranzubleiben, denn es lohnt sich wirklich.

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Cover des Buches Seine Exzellenz der Android (ISBN: 9783949671067)
Sikals avatar

Rezension zu "Seine Exzellenz der Android" von Leo Gilbert

KI in aller Munde
Sikalvor 7 Monaten


 

Leo Gilbert, als Leo Silberstein geboren, könnte man als so etwas wie einen Universalgelehrten bezeichnen. Sein technisches Studium und das Wissen darum erweiterte er immer wieder mit allen nötigen Fächern rund um sein Fachgebiet. Seine Aufsätze erhielten viel Beachtung, und er war ein angesehener Wissenschaftsjournalist. Der phantastische Roman über einen vollkommenen Androiden und seinen genialen Schöpfer Frithjof Andersen lässt den Leser in dieser Zeit, in der KI tagtäglich in den Medien vorkommt, ein wenig nachdenklich zurück.

 

Zu Beginn, als billige Arbeitskraft angesehen, emanzipiert sich das Geschöpf von seinem Schöpfer und entwickelt ein Eigenleben. Abgeschnitten von seinem Werk versucht der Wissenschaftler das Schlimmste zu verhindern, da er bereits genau voraussieht, welche Wendungen sein Geschöpf vollzieht. Mit allen Mitteln versucht er der Lage Herr zu werden und immer wieder, so scheint es, gelingt es ihm seine Schöpfung wieder unter Kontrolle zu bringen.

 

Doch auch der Android entwickelt sich weiter und genau mit der sprachlichen List, die ihm von seinem Schöpfer mitgegeben wurde, arbeitet er sich hoch. Gesellschaftlich hoch angesehen, gelingt es dem Androiden vom Großindustriellen zum Minister aufzusteigen.

So macht der Android seinen Weg – zuerst „ohne Gefühl als Industrieller und später ohne Hirn als Politiker“. Als die Lage weiter eskaliert und der Android auf einen Krieg zusteuert, sieht Andersen seine letzte Chance gekommen. Wird er sein Werk umprogrammieren oder gar zerstören können, um damit das Schlimmste abzuwenden?

 

Bei der Lektüre wird schnell klar warum dieses Werk von den Nazis verboten und verbrannt wurde – finden sich doch viele ihrer eigenen Ideologien auf satirische Weise wieder. Gut für Leo Gilbert-Silberstein und seine Leser, dass dieses Buch wiederentdeckt wurde. Sowohl Fans als auch Kritiker und Nutzer der viel gepriesenen und viel zerrissenen künstlichen Intelligenz werden in diesem Buch auf ihre Rechnung kommen.

 

Positives und Negatives, Humorvolles und Nachdenkliches liefert der Android zu Tage, so vielfältig oder einfältig wie sich auch unsere heutige KI darstellt. Es kommt immer darauf an ob man die Technik für oder gegen etwas einsetzt – selbst wenn sie sich verselbstständigt oder gerade dann. Gerne vergebe ich 5 Sterne.

Kommentare: 2
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Cover des Buches Seine Exzellenz der Android (ISBN: 9783949671067)
Bellis-Perenniss avatar

Rezension zu "Seine Exzellenz der Android" von Leo Gilbert

„Der Wahn ist das Wesentliche des menschlichen Daseins.“
Bellis-Perennisvor 8 Monaten

Wer heutzutage das Wort „Android“ hört, denkt sofort an das Betriebssystem der meisten Mobiltelefone. Das ist hier in diesem Buch nicht gemeint, sondern von Menschen konstruierte Roboter, die ein Eigenleben entwickeln. Androide bevölkern die Landschaft der SF-Literatur. sich. 

Der geniale Physiker Frithjof Andersen konstruiert diesen vollkommenen Maschinenmenschen, stattet ihn mit allen menschlichen Attributen aus und führt sein Geschöpf in die Gesellschaft ein. Die (Vor)Täuschung gelingt. Zu Beginn seiner „Karriere“ folgt der Android auch noch brav seinem Schöpfer und lernt. Doch dann emanzipiert er sich tanzt den Menschen auf der Nase herum. Die angelernten Phrasen verquicken sich zu scheinbaren Bonmots und der Automat wird hofiert. Er schwingt sich zum Großindustriellen auf, wird zum Minister ernannt. Dann triggern ihn einzelne Worte wie „Krieg“ an, zu denen er Hetzreden von sich gibt und das Volk in eine Kriegsbegeisterung stürzt, die ihresgleichen sucht. 

„Das Los eines Volkes abhängig von einer einzigen verdorbenen Puppe!“   

Ähnlich wie in Goethes Zauberlehrling kann auch Andersen sein Geschöpf nicht im Zaum halten.  

„Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los.“

Doch während bei Goethe ein Zauberspruch dem Treiben Einhalt gebieten kann, bleibt Frithjof Andersen nur, sein Werk wieder zu zerstören.

Meine Meinung: 

Dieser im Jahr 1907 vom jüdischen Wissenschaftsjournalisten Leo Silberstein-Gilbert (1861-1932) verfasste Roman gilt als Vorläufer der Science-Fiction-Romane.  

Die Idee, ein Ebenbild des Menschen zu erschaffen, das nach dem Willen seines Schöpfers handelt, ist nicht wirklich neu. Diverse Homunculi oder Golems geistern durch die Literatur. 

Anders, als der jüdische Golem, der als aus Lehm geschaffener künstlicher Nicht-Jude Arbeiten für die Juden verrichten soll und über keinen eigenen Willen, dafür aber über Bärenkräfte verfügen soll, ist Gilberts Android weniger ein Maschinenmensch à la Terminator, sondern ein humorvolles, sehr menschliches Geschöpf. Er lernt durch Nachahmen und ähnelt der Künstlichen Intelligenz (KI), die heute eingesetzt und manchmal auch schon gefürchtet ist.  

„Für diesen Wahnsinn der Menschheit müssen sie, die Schöpfer der Werke, die Zwangsjacke bekommen.“ (S.277) 

Dieser Roman weist in gerade zu prophetischer Weise auf das Ende der großem Monarchie (Österreich-Ungarn, das deutsche Kaiserreich und das Zarenreich) hin.  

Der Schreibstil ist dem Fin de Siècle entsprechend und enthält zahlreiche Worte, Redewendungen sowie Anspielungen auf die Donaumonarchie. Ich mag das, wenn Austriazisem wie „spintisieren“ verwendet werden.  

Dass sein Roman 1933 aus allen deutschen Bibliotheken verb(r)annt wird, muss Leo Silberstein-Gilbert nicht mehr erleben. 

Es ist Nathaniel Riemer zu verdanken, dass dieses Meisterwerk der Fantasie aus dem Fin de Siècle eine Neuauflage im Verlag W erfährt. Damit wird dieser erste SF-Roman vor dem Vergessen bewahrt. 

Fazit: 

Diesem prophetischen Meisterwerk gebe ich sehr gerne 5 Sterne.

 

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