Cover des Buches Dein Name (ISBN: 9783446237438)
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Rezension zu Dein Name von Navid Kermani

Ein fulminantes Lebensbuch

von Maldoror vor 8 Jahren

Rezension

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Maldororvor 8 Jahren

Mit dem Roman „Dein Name“ hat der habilitierte Orientologe Navid Kermani einen opulenten Brocken Literatur geschrieben, der so umfassend, vielfältig und schwer greifbar erscheint wie das Leben eines jeden einzelnen Individuums.

1230 Seiten ohne jede Unterteilung in Kapiteln, die Anzahl von Absätzen und Zeilenumbrüchen schneller gezählt, als die Lösung einer Sachtextaufgabe im Mathematikunterricht zu finden.

Ein Gedankenstrom, der mit seiner ungehörigen Informationsflut von Sinneseindrücken, Erinnerungen, Assoziationen, Beschreibungen, Berichten, Thesen und-was-weiß-ich-noch-alles jegliche Speicherzellen des Gehirns flutet.

Und nach dem Weichen der Flut bleibt doch so vieles in den tieferen Regionen des Verstandes hängen, wie Treibgut und sedimentäre Ablagerungen am Boden eines Gewässers.


Obwohl eine Gliederung und Selektion der Themen und Motive in diesem Konglomerat schwer bis unmöglich ist, da Kermani selbst einräumt keinen Unterschied zwischen dem Unbedeutenden und Bedeuteten zu machen, denn dies alles gehört zum Leben und dem Versuch des Autors, mit der Komplexität und Vielfalt der Welt literarisch Schritt zu halten, obwohl Schrift und Wirklichkeit zweier unterschiedlichen Ordnungen angehören.


Gegen die dokumentarische Abschweifungswut Kermani's wirkt selbst der epische Totalitätsanspruch eines Tolstois manchmal antiquiert.

Im Zeitraum vom Juni 2006 – Juni 2011 hat der Berichterstattende wohl alles niedergeschrieben was im so durch den Kopf ging. Passt dies gerade nicht an eine vorherigen Abschnitt, so wird dies trotzdem konsequent und schonungslos sofort eingeschoben. Dabei keine Rücksicht auf den gerade noch laufenden Gedankengang, in den sich der Leser vielleicht endlich nach 2 Seiten hineinversetzen kann oder einen Lichtblick im Dickicht erkennt.


Als Zusatz zum Haupttitel steht eindeutig die literarische Gattung „Roman“. Doch sprengt der Schriftsteller jegliche Genres wie Essay, akademische Abhandlung, Autofiktion, Reportage und was-weiß-ich-noch-alles.


Das entstandene Kompendium - in dem das Kleine wie das Große, das Banale wie das Erhabene, das Vergangene wie das Gegenwärtige, das Mystische wie das Erklärbare zusammenfinden – ist eine wahre Zumutung und Anstrengung für den Leser, gerade in unserer heutigen forciert schnelllebigen Zeit der Beschleunigung, Ablenkung und Zerstreuung.


Die sprachliche Umsetzung durch die Selbstdarstellung des Berichtenden, der von sich fast ausschließlich in der dritten Person spricht, dem vollständigen Verzicht von Namen lebender Personen, der ausufernden metafiktionalen Spinnweben die sich über ganze Seiten strecken können, erschweren die Lektüre zusätzlich. Dabei muss man festhalten, dass insgesamt kein Sprachvirtose sondern ein intellektueller Universalgelehrter (Religionswissenschaftler, Poetologe, Germanist, Orientalist, Soziologe, Kulturwissenschaftler ...) prosaisch tätig ist, sodass einige Passagen doch bleischwer im Magen liegen bleiben.

Warum also die Anstrengung?


Seine „Selbsterlebensbeschreibung“ stützt sich unter anderen literarisch auf den Stil Jean Pauls, in mystischen und religiösen Erhebungen auf Friedrich Hölderlin, seine Schilderung der eigenen Familiengeschichte und der modernen Geschichte Irans des 20. Jahrhunderts.


Die umfasende Weltläufigkeit und Universalität der Reiseberichte und Beobachtungen zwischen Köln, Kabul, Kashmir, Teheran, Isfahan und Rom sind deshalb von enormer Qualität, weil ein zutiefst menschlicher, humanistischer und aufgeklärter Geist dies aufnimmt und selten von persönlichen Eitelkeiten und überhöhter Selbstdarstellung untergraben wird.

Dabei ist das Buch auch eine Würdigung der Toten und eine Hymne an das Vergangene und Verlorene.

Die gezeichneten Porträts von Künstlern, Freunden, Schriftstellern, zu welchen Kermani im Laufe seines Lebens mehr oder weniger innige und feste Beziehungen unterhielt, sind fast ausschließlich glänzende Nachrufe ohne überhöhten Pathos, Glorifizierung und Stilisierung der einzelnen Personen zu Ikonen.


Weiterhin thematisiert: philosophische Metaphysik zu Leben und Tod und der eigenen menschlichen Begrenztheit und individuellen Wahrnehmung des eigenen Ich, Alltagsbeobachtungen in den deutschen Heimatprovinzen Siegen und Köln, persönliche Krisen und intimste Momente (Ehekrise, Krebserkrankung, Assoziationen zu Liebe und Sex), die mystische und spirituelle Kraft christlicher Malerei, die Poesie und sprachliche Schönheit des Korans, elegische Begegnungen und Erlebnisse bei Rockkonzerten (Neil Young), literaturwissenschaftliche Assoziationen, Vergleiche, Essays und Anektdoten zu Jean Paul, Friedrich Hölderlin, Heimito von Dodererer (wenn's ums Trinken geht^^^), Rolf Dieter Brinkmann, Philip Roth, J.M. Coetzee und vielen anderen.


Den Wandel der arabischen Welt und Kultur im 20. Jahrhundert, der riesige soziologische, kulturelle Verlust von Vielfalt, Originalität, ästhetischer Kraft und humaner Größe in großen Teilen des muslimisch geprägten Orients vortrefflich aufzuzeigen und zu Recht zu beklagen und doch die Klarheit und den Verstand zu haben, Zusammenhänge richtig im komplexen kosmopolitischen Kontext einzuordnen ohne populistische Ressentiments zu übernehmen und dabei immer mit den Prinzipien der Menschlichkeit, des Verstandes und der Vernunft zu bewerten, ist du Recht sehr hoch einzuordnen.


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