Cover des Buches Der Sohn des Hauptmanns (ISBN: 9783832189433)
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Rezension zu Der Sohn des Hauptmanns von Nedim Gürsel

Nichts dazu gelernt?

von Fantasie_und_Träumerei vor 7 Jahren

Rezension

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Fantasie_und_Träumereivor 7 Jahren
Der Einstieg in den Roman ist mir nicht ganz leicht gefallen. Aber meine Erwartung an das Buch war nicht die, einem Roman zu begegnen, der sich einfach so weglesen lässt. Vielmehr erhoffte ich mir vom Klappentext, dass Gürsel die Struktur zwischenmenschlicher Beziehungen offen legt. Am besten Häppchenweise und so, dass mein Geist wach und in Bewegung bleibt.
Als ich vom Verlag die Anfrage bekam, ob ich das Buch lesen wolle, war mein erster Impuls Ablehnung. Türkei - interessiert mich doch gar nicht. Warum? Ich glaube, weil ich kaum etwas über Land, Kultur und die Menschen dort weiß. Und das, obwohl ich so häufig über Toleranz spreche. Ein Blick in die Leseprobe und ich war mir sicher: Gürsel würde mir dabei helfen, meinen Horizont zu erweitern.
Der Protagonist und Ich-Erzähler des Romans hat ein schwieriges Verhältnis zu seinen Eltern. Auf den Vater sollte er stolz sein, denn die Großmutter ist es auch und die Nachbarn irgendwie auch. Hat er sich doch Ruhm erworben beim Militärputsch 1960, einem Kampf für die Türken und gegen die Kurden. Doch wie soll man stolz sein auf einen Mann, der glaubt die Meinung seines Volkes durchgesetzt zu haben, obwohl das Volk aus verschiedenen, individuellen Perönlichkeiten und Ansichten besteht? Und obwohl er dafür Gewalt und Erpressung anwandte? Obwohl er seine Machtposition ausgenutzt hat, um seine eigene Stellung zu verbessern?
In dieser, aber auch vielen anderen Betrachtungen des Autors, finde ich eine Parallele zur heutigen politischen Lage in der Türkei und frage mich, ob die Bevölkerung auf dieser Ebene bewusst stecken geblieben ist oder ob es einem einzelnen immer und immer wieder möglich ist, ein ganzes Volk zu unterwerfen und durch geschickte Psychospielchen die eigene Meinung, als die des Volkes zu verkaufen (siehe auch unsere eigene Historie)?
Das Verhältnis zwischen Ich-Erzähler und Mutter ist schwierig. Gespalten. Er wünscht sich mehr Liebe und Zuneigung zu ihr, der Vater gewährt dies nicht und am Ende stirbt sie bei einem Unfall. Oder ist es Suizid? Gürsel überlässt es dem Leser zu entscheiden, ob das Leben an der Seite eines Mannes, der von seiner Mutter vergöttert wird und dieses Selbstbewusstsein oder falsche Verständnis von zwischenmenschlichem Zusammenleben, in seine kleine, beschränkte Welt hinausträgt und dort den Dicken markiert, überhaupt lebenswert ist.
Die Sehnsucht nach der Mutter begleitet den Protagonisten ein Leben lang. Gestaltet seine eigene Entwicklung als schwierig. Von unerfüllten Wünschen belastet, bleibt er immer auf der Suche. Glaubt mal hier, mal dort angekommen zu sein, und macht sich kurz darauf doch erneut auf den Weg.
Der Ich-Erzähler beschreibt sein Leben aus einer Gegenwart und kehrt immer wieder in die Vergangenheit zurück. Scheinbar beliebig greift er nach einer Geschichte aus seinem Leben. Die Willkür der Reihenfolge geht erst dann verloren, als dem Protagonisten klar wird, worauf alle Fäden hinauslaufen. Der Ursprung all seines Denkens und Handelns liegt in seiner Beziehung zu den Eltern und der Heimat. Wir wollen es oftmals nicht wahrhaben, aber Heimat prägt unser Leben ebenso wie Begegnungen.
Das Buch ist nicht für die LeserInnen geeignet, die Action suchen. Die Spannung versteckt sich hier eher zwischen den Zeilen. In Fragen, die Charakterstruktur des Protagonisten und des Landes mit seiner Politik betreffend. Psychologische wie kritische Gedankengänge voller Tiefe. Vielleicht nicht auf den ersten Blick, sondern erst bei genauerem Hinsehen zu erkennen.
Gerade diese Form des Ausdrucks, die Verwendung von Umschreibungen, die Alles und Nichts bedeuten können, sowie die direkte Ansprache von Themen, die nicht immer direkt angesprochen werden (dürfen?), holt mich genau dort ab, wo ich auf diesen Roman gewartet habe.
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