„Das schlimmste F-Wort, das es gibt […] lautet >>Familie <<“ (S.45).
LESEHIGHLIGHT❤️
Die unzertrennlichen Geschwister Eli und Abi haben nicht viel, doch sie haben einander – und ihre Bücher, ihre Wortschatzspiele, ihre Geheimsprache, ihre Liebe zu Tieren sowie einen großen Traum: die Flucht nach Manhattan, damit Abi ihrem Idol, der Fotografin Diane Arbus, nacheifern kann. Mit dieser kindlichen Sehnsucht beginnt Neil Smiths Roman „Jones“, der sich den dunkelsten Facetten des Erwachsenwerdens in einer dysfunktionalen Familie widmet. Die Handlung setzt in den frühen 1970er Jahren ein und spannt sich bis in die 1990er Jahre. Eli und Abi, zu Beginn sieben und neun Jahre alt, wachsen unter schwierigen Bedingungen bei ihren Eltern Joy und Pal auf. Die Familie ist ständig unterwegs und zieht alle ein bis zwei Jahre von einer Stadt zur nächsten – von Montreal über Massachusetts und Salt Lake City bis nach Illinois, stets auf der Suche nach einem neuen Job für Pal. Diese ständigen Ortswechsel, die sich auch in der Struktur des Romans widerspiegeln, destabilisieren die ohnehin fragile Familiendynamik und rauben den Kindern jegliches Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit.
Der Titel „Jones“ verweist nicht nur auf den Nachnamen der Familie, sondern auch auf den umgangssprachlichen Ausdruck für „Sucht“ oder „Verlangen“ und wird so zum Symbol für die zerstörerischen familiären Verhältnisse und die Alkoholabhängigkeit des Vaters. Pal und Joy sind emotional nicht verfügbar, vernachlässigen ihre Kinder und behandeln sie oft wie Erwachsene. Besonders Joy scheut sich nicht, Eli und Abi als „schreckliche Geschöpfe“ zu bezeichnen, was die emotionale Distanz zwischen Eltern und Kindern weiter verstärkt. Kein Wunder, dass Eli und Abi ihre Eltern nur noch distanziert als „Elterneinheiten“ bezeichnen.
Schon früh zeigen sich bei den Geschwistern sowohl besondere Begabungen als auch zwanghafte Verhaltensweisen. Abi, die unter Essstörungen leidet, behauptet, sie könne sich auf seelischer Ebene nicht nur in ihren Bruder, sondern auch in Tiere hineinversetzen. Eli hingegen, der besonders sensibel ist, achtet peinlich genau darauf, Ordnung zu halten, in der Schule nur die Note Zwei zu bekommen und keine grüne Kleidung zu tragen. Seine Leidenschaft für die französische Sprache führt ihn schon als Kind dazu, Bücher und Comics zu übersetzen, und später wird er als freiberuflicher Übersetzer arbeiten.
An seinem zwölften Geburtstag, macht er eine schockierende und traumatisierende Entdeckung, die Abi betrifft, über die in der Familie auch in den Folgejahren geschwiegen wird und die das Leben von Abi nachhaltig zerstört hat …
In seinem vermutlich autofiktionalen Roman (?) setzt sich Neil Smith mit äußerst schweren und aufwühlenden Themen auseinander: Elterliche Vernachlässigung, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, Verdrängung, Schuld, gescheiterte Versuche der Vergangenheitsbewältigung, Inz3st, S3lbstmordversuche und s3xueller Missbrauch sowie daraus resultierende posttraumatische Belastungsstörungen. Smith begegnet diesen Themen nicht immer unbedingt mit einer „Klaviatur der Emotionen“, vielmehr oft mit äußerst schwarzem Humor und einer tragikomischen Note – auf eine Art, mit nur derer sich diese ganz besonderen Figuren wie Eli und Abi vielleicht diesen Thematiken überhaupt stellen können. Er als Autor sich diesen Topoi stellen kann?! Eine eigene Art des Schutzraumes, die mich dennoch völlig erreicht und überzeugt hat.
So mögen auch vielleicht nicht alle Handlungen und Gedankengänge der Geschwister immer logisch erscheinen. Und doch gelingt es Smith, tiefes Mitgefühl für die erlittenen Traumata und seelischen Wunden zu erzeugen. Zugleich webt er auch Momente von Liebe, Zärtlichkeit, Freundschaft, Verbundenheit, Resilienz und Hoffnung in die Erzählung ein, die zeigen, wie stark der Wunsch ist, sich von den Fesseln der Vergangenheit zu befreien; wie gleichsam schwer es ist ... Der Roman ist Smiths Schwester Gail gewidmet und endet mit einem Foto, das – so auch intertextuell eingebettet – an Abis glückliche Kindheitserinnerungen erinnert – ein kleines, lächelndes Mädchen in einem Balletttutu.
Ob dieses Bild tatsächlich Smiths Schwester zeigt, bleibt unklar. Doch wer nicht spätestens an dieser Stelle zu Tränen gerührt ist … nun, dann weiß ich auch nicht. Für mich ist „Jones“ ein ganz besonderes, außergewöhnliches und intensives literarisches Highlight. Ganz große Liebe für die beiden Geschwister aus „Jones“-Town❤️! Ein Autor, den ich mir merken werde! Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek.