"Sister Europe" war für mich tatsächlich ein ganz schönes Brett. Ich hätte das ehrlich so gar nicht erwartet.
Das Buch ist wie ein Kaleidoskop aus verschiedensten Themen, in das man reinschaut und dann kommt alles auf einmal und irgendwie hat mich das überfordert. Die Geschichte lebt nämlich weniger durch klassische Handlung als vielmehr durch die ultimative psychologische Tiefe UND Breite, intellektuelle Spannungen und ne irre Themenvielfalt. Aber nicht Themen wie das Wetter, sondern wie sexuelle Identitätsfindung. Also schon schwere Themen.
Erzählt wird die Geschichte einer einzigen Nacht in Berlin, doch was zunächst wie ein eng gesteckter Rahmen klingt, entfaltet sich in Zinks Schaffen zu einem hochkomplexen, tiefschürfenden Gesellschaftspanorama, das es in sich hat. Hier geht es nicht um den Plot im klassischen Sinne – keine dramatischen Höhepunkte, keine Auflösung, wie man das eben von Geschichten so gewohnt ist. Hauptbestandteil der Geschichte ist das, was zwischen den Zeilen geschieht: ein Aufschlüsseln von Identität, ein Sezieren unserer Zeit und ihrer Spezifika und eine schonungslos kluge Beobachtung der brüchigen Fundamente unseres sozialen Miteinanders.
Im Mittelpunkt steht Demian, ein deutscher Kunstkritiker, der zusammen mit seiner transidenten Tochter Nicole sowie einer illustren Mischung aus wirklich unterschiedlichen Menschen an einer Literaturpreisverleihung teilnimmt. Im Grunde genommen könnte man das schon als psychologisches Kammerspiel betiteln, was dann passiert. In kurzen, dichten Kapiteln begegnen wir Figuren wie Livia, die mit dem Erbe ihrer nationalsozialistischen Familie ringt; Toto, einem amerikanischen Verleger, der sich in seiner ironischen Weltsicht verschanzt; und Prinz Radi, dessen oberflächlicher Glamour seiner eigentlich viel tiefer liegenden Sinnsuche nicht mehr gerecht wird. All diese Begegnungen ereignen sich in scheinbar beiläufigen Dialogen – Gesprächen in Hotelzimmern, im Taxi oder an der Bar. Auf der einen Seite wird das der Intensität der Themen nicht gerecht, aber dennoch ist es irgendwie passend, weil das Leben für solche Themen eben nun mal keine großen Bühnen baut oder Momente schafft, in denen der Rest des Lebens kurz innehält.
Obwohl also im klassischen Sinne „wenig passiert“, geschieht auf der emotionalen Ebene sehr viel. Der Fokus liegt hier ganz deutlich auf den Spannungen, die nicht explizit ausgesprochen werden – auf der Irritation im Blick, dem unvollendeten Satz, einem tiefen Atmen, das die Worte ersetzt. Die Sprache ist dabei wirklich ziemlich scharf, ironisch und gleichzeitig phasenweise fast schon intellektuell. Vielmehr nutzt Zink ihre erzählerischen Mittel, um das Unausgesprochene in den Mittelpunkt zu stellen: die verborgene Angst, die zerbrechliche Hoffnung endlich anzukommen.
Eines der stärksten Elemente des Romans ist die Figur der Nicole. Als transidente junge Frau zeigt sie nicht nur eine marginalisierte Identität, sondern erzählt sehr ehrlich ihren Weg der Transformation und zeigt in ihrem Handeln sowohl Verzweiflung als auch das ständige Hinterfragen, Ringen und sich-behaupten-müssen.Ihre Sanftheit ist gleichzeitig tieftraurig und super-kraftvoll. Wirklich gut daran, dass Nicole nicht plakativ daherkommt, ihre Erfahrungen, die sie auf ihrem Weg macht, nicht ausgestellt werden, wie auf einem Basar, sondern ganz tief in der Geschichte verwoben sind. Das ist wirklich sehr gut gemacht!
Allerdings muss ich sagen, dass die Geschichte für mich ganz persönlich überbordend und fast schon zu viel ist. Es sind einfach zu viele krasse Themen auf sehr kleinem Raum (im Grunde genommen nur einer Nacht bzw. rund um die Preisverleihung) und eben auf wenig Handlung verteilt. Das macht es sehr dicht - aber in dem Fall eher zu dicht. Zink wirft Fragen auf zu kultureller Zugehörigkeit, Geschlechteridentität, politischem Erbe, moralischer Verantwortung, zum Verhältnis von Öffentlichkeit und Intimität, zum Verschwimmen von Authentizität im Kontext sozialer Repräsentation. All diese Themen werden nicht didaktisch behandelt, sondern tauchen organisch in den Gesprächen und Innenwelten der Figuren auf. Und dafür braucht man nicht nur Zeit, sondern auch den entsprechenden gedanklichen Freiraum, sich damit beschäftigen zu können. Und zu wollen. Beim Lesen gibt es einfach keine Pause von den Themen. Es gibt gefühlt keine Szene, die einfach nur mal leicht ist oder wo man das Gehirn mal kurz auf die Bank setzen kann, um die schöne Aussicht zu genießen.
Das ganze Geschehen könnte man als einen symbolischen Raum betrachten, in dem sich die Fragilität postmoderner Identitäten und Beziehungen offenbart. Man darf keine Antworten auf die aufgeworfenen Fragen erwarten, sondern wird vielmehr gezwungen, neue zu stellen: Wer sind wir, wenn die Rollen bröckeln? Was bleibt, wenn wir den Spiegel des Gegenübers nicht mehr aushalten? Und wie wollen wir leben – in einer Zeit, in der jede Positionierung möglich ist, aber auch Risiko bedeutet? Und noch wirklich sehr viele mehr.
Ich würde mal sagen, dass “Sister Europe” wirklich kein einfaches Buch ist, schon fast ins Unbequeme rutscht. Aber vielleicht ist genau das auch mal notwendig. Es ist keine Wohlfühllektüre, sondern eine Geschichte, die einen immer bisschen am Abgrund entlangschlittern lässt. Leser:innen, die es mögen, zwischen den Zeilen zu lesen, sprachliche Dichte und emotionale Subtexte zu verstehen und die mit unbequemen Wahrheiten kein Problem haben, sollten hier auf alle Fälle zugreifen.
Und ich würde das Buch gern auch all denen geben, die ein ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken haben. Für die ist das Buch erst die Hölle und dann hoffentlich eine Heilung! Denn unsere Welt ist bunt!