Rezension zu "Letters from Abbottabad: Bin Ladin Sidelined?" von Nelly Lahoud
In typisch amerikanisch-feierlicher Manier verkündete Präsident Barack Obama in den frühen Morgenstunden des 2. Mai 2011, dass amerikansche Spezialeinheiten bei einer Militäroperation in Abbottabad (Pakistan) Osama bin Laden getötet hätten. Der Jubel der auf den Strassen folgte, zeigte wie gross die Spannung zehn Jahre und zwei Kriege nach 911 immer noch war. OBL war die Verkörperung des Bösen und der Inbegriff des Terrorismus schlechthin. Mit Verweis auf die Verbindungen seiner Al Qaida zum Irak begannen die USA und Grossbritannien einen Krieg, dessen Kontrolle ihnen schnell entglitt un der statt der schnellen Demokratisierung des Nahen Ostens einen langen, teuren und verlustreichen Guerillakrieg bescherte.
Aufgeschreckt wurden allerdings alle, die bis dahin tatsächlich noch geglaubt hatten, dass Pakistan ein Verbündeter der USA und des Westens im Kampf gegen den Terror gewesen ist. Spätestens mit der Tötung bin Ladens tief in Pakistan musste dem letzten klar geworden sein, welch teufliches und zynisches Doppelspiel die Pakistanis betrieben hatten. Bin Laden hatte offensichtlich über Jahre quasi vor den Toren der grössten Militärakademie und tief im Land gelebt, unbehelligt von den Sicherheitskräften. Und Pakistan schien nicht nur bin Laden gedeckt zu haben: der Aufruhr der um den amerikanischen Militäreinsatz in Pakistan entstand, zeigte wie zerrüttet das Verhältnis der beiden Länder eigentlich längstens war. Fachleuten und Militärs war seit langem bekannt, dass Pakistan - und damit ist vor allem der Geheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence) gemeint - die Taliban in Afghanistan unterstützten. Solange sich die Verluste der Amerikaner und ihrer Verbündeten aber in Grenzen hielten, wollte niemand das fragile Verhältnis gefährden. Mit zunehmender Intensität der Angriffe und der damit steigenden Anzahl von Opfern verschlechterte sich das Verhältnis zusehends. Die Tötung bin Ladens stellte dabei nur einen weiteren Höhepunkt einer Eskalationskurve dar.
Doch hatte die Tötung des "Mastermind of terror" tatsächlich Auswirkungen auf die Weltpolitik? Würde das "Terrornetzwerk" zusammenbrechen? Würden die Taliban in Afghanistan eine Verhandlungslösung anstreben? Nicht ganz überraschenderweise ist nichts von dem eingetroffen. Zum einen weil die Einschätzung, dass AQ tatsächlich ein zentral gesteuertes Netzwerk mit dem Hirn bin Laden an der Realität vorbeizielte und zum anderen weil eben Pakistan die Widerstandsgruppen in Afghanistan kontrolliert und eine wie auch immer geartete Beziehung zu Al Qaida nicht existiert hat. Die Vorstellung von der Existenz einer Kern-AQ, welche die Operationen in den verschiedenen Ländern finanzierte, steuerte und überwachte ist der Propaganda der USA geschuldet, welche in Person von Bin Laden und der Strukturierung von AQ einem die Welt bedrohenden Netzwerk nutzten, um ihre aussenpolitischen Ziele durchzusetzen. Der Name Al Qaida wurde so quasi zu einem Label, einem Markennamen für Terrorismus. Dabei ist anzumerken, dass die Verteufelung und auf zweifache Weise die Popularität des Markennamens Al Qaida befördert hat, und damit den Eindruck eines weltweit existierenden Netzwerks verstärkt hat. Erstens sahen viele autoritäre Regimes in Nordafrika und im Nahen Osten die Möglichkeit vom Geldsegen der Amerikaner zu profitieren, wenn sie nur ein Bedrohung durch Al Qaida nachweisen konnten. Genauso übten sich westliche Nationen in dieser Deklarierungstaktik, da sie die kritische Auseinandersetzung überflüssig machte und die Bedrohungswahrnehmung damit recht einfach aufrechterhalten werden konnte. Andererseits trug aber auch die Selbstdeklaration von Terrorgruppen dazu bei, das Bild des Netzwerks zu festigen. Durch die Prominenz, welche der Name in den Medien erhalten hatte, sahen es etliche Terrorgruppe als positiv für ihr Image sich namensmässig an die von Bin Laden gegründete „Basis“ anzugleichen, auch wenn Ziele und Ideologie oft weit auseinanderklafften.
Die Dokumente welche für den vorliegenden Band von einem Team des Combating Terrorism Center an der Militärakademie West Point ausgewertet wurden bestätigen diesen Eindruck einmal mehr. Dafür wurden siebzehn Dokumente, welche den amerikanischen Truppen bei der Stürmung von Bin Ladens Haus in die Hände fielen und jetzt vom Militär freigegeben wurden, ausgewertet. Alle Dokumente sind zwischen 2006 und 2011 entstanden, nicht bei allen ist aber die Urheberschaft zweifelsfrei geklärt, bzw. kann eindeutig Bin Laden zugeordnet werden. Dabei wird nicht nur das Bild des Netzwerks mit dem Denker und Lenker Bin Laden schwer erschüttert. Offensichtlich werden dabei auch die schweren Konflikte innerhalb der Organisation rund um Bin Laden. Und es wird die Frage aufgeworfen welche Rolle die Nachbarländer Afghanistans – Iran und Pakistan – bei der Unterstützung gespielt haben.
Natürlich ist die Anzahl der Dokumente sehr eingeschränkt und die Auswahl sehr selektiv. Auch dass das CTC die Dokumente selbst übersetzt hat (und das relativ schnell), schränkt die Qualität etwas ein. Ein Fakt den die Autoren übrigens auch selber einräumen. Nichtsdestotrotz ist es ihnen gelungen, eine erhellende und Analyse zu erstellen, die wenn auch nicht gerade einen Wendepunkt, so mindestens ein deutliche Akzentverschiebung bei der Beurteilung der Rolle und Bedeutung von Bin Laden und Al Qaida darstellt.