Dr. Watson hat genau vier längere Romane und sechsundfünfzig Kurzgeschichten über seinen Freund, den großen Detektiv Sherlock Holmes, niedergeschrieben und im "Strand Magazine" veröffentlicht. Stimmt nicht.
Das zumindest behauptet der amerikanische Autor Nicholas Meyer, der bereits mit der Wiederentdeckung des Werks "Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud" auf sich aufmerksam gemacht hat. Nach dem großen Erfolg dieser Nacherzählung, die auch schnell ihren Weg auf die Leinwand gefunden hat, (In Deutschland unter dem Titel "Kein Koks für Sherlock Holmes") kann sich Meyer vor Briefen nicht retten, in denen von weiteren Funden verlorener Manuskripte berichtet wird. Der Großteil davon kann als nicht authentisch oder schlichte Fälschung abgetan werden. Eines aber, dass sich lange Zeit im Besitz von Holmes' Großonkel Horace Vernet befunden hat, scheint eindeutig aus Watsons Feder zu stammen.
Ursprünglich sollte die Geschichte aufgrund ihres brisanten Inhalts nie veröffentlicht werden, doch die Geldnot der Urahnin Vernets, in deren Besitz sich das stark vom Zahn der Zeit zerstörte Werk befindet, lässt ihr keine andere Wahl. Meyer nimmt sich der Geschichte hat, rekonstruiert mithilfe von Wissenschaftlern der UCLA die zuvor nicht mehr lesbaren Zeilen und gibt es in den Druck. "Sherlock Holmes und die Theatermorde" ist entstanden.
Die Geschichte spielt im März des Jahres 1895, dem kältesten Winter, den Holmes und Watson je erlebt haben. Eine grausame Reihe von Morden erschüttert das Westend und insbesondere die dort ansässige Theaterszene. Bernard Shaw, Theaterkritiker und Nörgler vom Dienst, will den Tod seines Konkurrenten Jonathan McCarthy aufgeklärt sehen, den man mit einem Stich unterhalb des Herzens ins Jenseits geschickt hat. Holmes' Interesse am Fall ist geweckt und gemeinsam mit dem treuen Watson nimmt er die Ermittlungen auf. Und an Verdächtigen scheint es diesmal nicht zu mangeln. Fast ein jeder Beteiligter hat ein Motiv und besonders der geheimnisvolle Bram Stoker scheint verdächtig. Als mit der Theaterschauspielerin Miss Rutland eine weitere Leiche gefunden wird, spitzen sich die Ereignisse zu.
Nicholas Meyer schafft es, wie schon im oben genannten Vorgänger, wieder einmal durchaus brillant, dieser Nacherzählung einen von Beginn an authentischen Klang zu verleihen. Derart penibel genau schildert er die Wiederentdeckung des Buchs, das man beinahe selbst glaubt, einen Watson hätte es wirklich gegeben und Doyle wäre tatsächlich nur der unbeteiligte Herausgeber gewesen. Den Ton des Letzteren trifft Meyer ebenfalls wieder haargenau, wenngleich die Figur Holmes diesmal leider etwas blass bleibt. Die sonst von ihm gewohnte Unnahbarkeit fehlt ebenso wie das immer von ihm vermittelte Gefühl, er kenne bereits die Lösung. In "Sherlock Holmes und die Theatermorde" tappt der große Detektiv, übrigens ebenso wie der Leser, lange Zeit im Dunkeln. Das wäre insofern nicht störend, wäre da nicht der überaus zähe Beginn des Buches, in dem sich die "Prominenten" wie Oscar Wilde und Bram Stoker die Klinke in die Hand geben. Hier will Meyer eindeutig zuviel. Das spannend-beklemmende Ende und die Gänsehaut-Auflösung entschädigen allerdings für vieles.
Insgesamt ist "Sherlock Holmes und die Theatermorde" ein gutes, kurzweiliges Pastiche, das die Klasse des Vorgängers aber bei weitem nicht erreicht und über viele Seiten zu träg daherkommt. Für Holmes-Anhänger eine klare Empfehlung. Alle anderen sollten lieber mit den Werken Doyles vorlieb nehmen.