Cover des Buches Meistererzählungen (ISBN: 9783257210910)
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Rezension zu Meistererzählungen von Nikolai W. Gogol

Rezension zu "Meistererzählungen" von Nikolai W. Gogol

von Sokrates vor 13 Jahren

Rezension

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Sokratesvor 13 Jahren
Wie die Buchinformationen bereits verraten,enthält der Band der "Meistererzählungen" die bekannten Erzählungen "Die Nase", "Altväterischer Gutsbesitzer", "Der Newski-Prospekt", "Tagebuch eines Wahnsinnigen" und "Der Mantel". ----------------- Die Nase: Eines Morgens findet der Barbier Jakowlewitsch in seinem frisch gebackenen Brotlaib eine Nase. Parallel hierzu sucht am anderen Ende der Stadt der Kollegienassessor Kowalioff seine Nase, rennt mit einem leeren Fleck im Gesicht durch die Straßen der Stadt. Auf dem Weg zur Polizei sieht er "seine" Nase an sich vorbeigehen - Nasen entwickeln in Gogol's Erzählung scheinbar ein Eigenleben. Offenbar hat der Barbier dem Herrn Kollegienassessor einmal ausversehen die Nase abgeschnitten... Die Erzählung ist skurril, zunächst äußerst witzig, da der Barbier und dessen Frau mehr als widerspenstig den Aufenthalt der Nase in ihrer Wohnung akzeptieren wollen und sie am liebsten auf dem schnellsten Weg wieder loswerden wollen, eingewickelt in einem Papierchen... Warum und wie die Nase verloren ging und was ihr Ausbüchsen für einen Sinn hatte, erzählt der Text nicht und ein klein wenig erscheint die Geschichte als ein Vorbote des Franz Kafka, der mit ebenso scheinbar sinnfreien, absurden Geschichten bekannt wurde. Altväterischer Gutsbesitzer: Diese kurze Erzählung kann man eher als ein Sittengemälde begreifen. Es erzählt die traurige Geschichte eines alten Ehepaares, draußen auf dem Lande und wie der Tod in ihr beider Leben tritt, den einen nimmt, den anderen alleine zurücklässt, allein in seinem Schmerz. Der Newski-Prospekt: Erzählt wird die Geschichte - angesiedelt auf der gleichnamigen berühmten St. Petersburger Prachtstraße - des Künstlers Piskarev, der sich unglaublich in ein Mädchen verliebt, das sich später jedoch als Prostitutierte herausstellt. Diese Erkenntnis trifft ihn so stark, dass er den Verstand verliert. Parallel zu dieser Geschichte erzählt uns Gogol von dem Freund des Piskarev, dem Pirogov, der sich auch in ein Mädchen verliebt, zwar nicht an dieser Liebe zerbricht, aber gleichwohl dafür mit Prügeln bestraft wird. Die alles umfassende Rahmenhandlung besteht in der Beschreibung der Stadt, wie sie früh morgens aussieht, wieviele Menschen unterwegs sind, was sie machen, wie sie aussehen. Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen: In Form von Tagebuchaufzeichnungen erzählt Gogol die tragische Geschichte des Poprischtschin, der an der eigenen sinnlosen Welt zerbricht; einerseits an einer unerfüllten Liebe, andererseits an seinem erdrückenden Beruf. Mit voranschreitender Handlung - motiviert durch Zeitungsartikel und Ereignisse der Gegenwart - beginnen seine Phantasterien immer skurriler zu werden bis er zuletzt - die verwendeten Daten werden ebenfalls immer durcheinanderer - sogar behauptet, der König von Spanien zu sein. Die Geschichte dokumentiert realistisch und bedrückend den Gang einer psychischen Erkrankung, die zunächst leise beginnt und in totaler Verwirrung des Betroffenen endet. Die realitätsnahe, nie die Situationen oder Reaktionen überziehende Darstellung schaft eine Atmosphäre, die den Leser mit einem derartig grenzwertigen Thema gekonnt konfrontiert, ihn mitreißt, aber ohne zu verschrecken. Der geistige Verfall und das - angedeutete - Ende des Protagonisten als ein Insasse einer Nervenheilanstalt malen beim Leser lediglich ein makabres, ernüchterndes Gesamtgefühl. Bereits für sich genommen unbedingt lesenswert! Der Mantel: Die Hauptperson, von der Gogols Novelle handelt, führt zunächst ein äußerst tristes, ereignisarmes Leben. Er ist Beamter, Kopist genaugenommen, und lebt weitgehend zurückgezogen als seltsamer Kauz, von den Arbeitskollegen verspottet. Als sein Mantel als nicht mehr flickbar von einem Schneider bezeichnet wird, entschließt er sich nach langem Mühen, Hadern und Sparen dazu, sich einen neuen Mantel zu kaufen. Als er ihn hat, beginnt gleichsam ein neues Leben: er nimmt nicht nur sich selbst sondern auch seine Umwelt wahr. Doch das Glück währt nicht lange - der neu gekaufte Mantel wird gestohlen, Akakij Akakijewitsch all seiner neu gefundenen Identität geraubt. Und als man ihn zu guter letzt auch noch an höherer Stelle verspottet als ihm bei der Suche nach Dieb und Mantel zu helfen, beginnt der unaufhörliche Verfall dieses Menschen. -- Gogol arbeitet gleichsam wie bei einer Parabel, er arbeitet aber auch wieder mit ungewöhnlichen Charakteren, denen er Grenzsituationen aussetzt, an denen sie zerbrechen. Und sie zerbrechen dort, wo die Gesellschaft ihnen am wenigsten hilft, wo sie ungeschützt all dessen beraubt werden, was ihnen Form und Halt gegeben hat, ein klein wenig Würde, Respekt vor sich selbst. Das Fanal der Geschichte entspinnt sich langsam und schleichend als düstere Ahnung vor des Lesers Auge - und das ist wieder einmal typisch Gogol. Und vielleicht schon ein kleiner Vorgeschmack auf Kafka: die Absurdität, die Aussichtlosigkeit und Ohnmacht des Einzelnen nachfühlen, sich hineinversetzen können und sollen, das Miterleben des Zerbrechens eines Individuums. Einfach nur großartig!
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