Die Angst vor dem, und gleichzeitig die Lust am, Weltuntergang begleitet die Menschheit vermutlich von Anbeginn der Zeit. Je sicherer allerdings die Lebensweise wird und je weniger Gefahren den Menschen im Alltag begegnen, desto mehr steigert sich die Faszination an Tod und Zerstörung. Gleichzeitig sprießen die Doomer in Zeiten der medial geschürten Ängste wie Pilze aus dem Boden. Waren es früher Welt- und Stellvertreterkriege oder die Angst vor der atomaren Auslöschung im Kalten Krieg, sind es heute die medial vermittelten Katastrophen, das Klimadesaster und Pandemien, die vielen Menschen das Fürchten lehren. Dabei ist das Grauen und der Schrecken abstoßend und anziehend zugleich. Zumindest für die, die nicht wirklich und unmittelbar betroffen sind. In den letzten 20 Jahren mussten wir die Wiederkehr der Zombies über uns ergehen lassen, mussten immer brutalere Mittelalterschlachten und reichlich Torture Porn ertragen. Was diese Entwicklung über unsere Kultur und unsere Werte aussaget, soll mal jede*r für sich ergründen. Dass es auch anders geht, zeigt Nina Casement mit Wild Card. Einem dystopischen Endzeitroman.
Das Ende ist erst der Anfang
Filme wie Mad Max, The Rover, The Book of Eli, I am Legend oder der Klassiker The Day after Tomorrow sind die Genre Standards, aber auch Bestseller wie Stephen Kings The Stand – Das letzte Gefecht, Dmitry Glukhovskys unübertroffene Metro-Trilogie oder unbekanntere Romane wie Leere Welt von John Christopher greifen das Szenario der, aus welchen Gründen auch immer, zerstörten oder untergehenden Welt auf. Manchmal bricht einfach nur die Zivilisation zusammen und manchmal wird gar fast die gesamte Menschheit ausgerottet. Nina Casement nimmt sich des letzteren Szenarios an. Die Schwierigkeit von Postapokalypsen ist allerdings, das eigentlich schon alles erzählt wurde. Und selbst absolut geniale Überraschungen wie C.A. Fletchers Ein Junge, sein Hund und das Ende der Welt haben es auf dem deutschen Buchmarkt sehr schwer. Ob sich Nina Casement einen Gefallen damit getan hat, ausgerechnet in dieses Genre vorzustoßen, wird wohl erst die Zeit zeigen. Ob es sich hingegen lohnt, das Buch zu kaufen, kann ich schon jetzt beantworten.
Bei Wild Card kommt das Ende der Welt per Meteorit. Was schon bei den Dinosauriern geklappt hat, sollte doch auch ein zweites Mal funktionieren. Während die großen Reptilien tatsächlich vollständig ausgelöscht wurden, haben es einige Menschen geschafft, sich rechtzeitig in die vermeintliche Sicherheit zu bringen. Doch was hilft einem das Überleben des Impacts, wenn danach der Untergang der Erde erst zu beginnen scheint. Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunamis, Stürme wie zu Urzeiten, und das sind nur die Naturereignisse, halten den Globus fest im Griff, während gleichzeitig die nukleare Katastrophe, der weltweit etwa 500 Atomkraftwerke, weite Teile zu Todeszonen verstrahlt. Kultur und Natur spielen eine Vernichtungssymphonie. Wer dies überlebt hat, sieht sich vor dem Problem gestellt, dass es keine Infrastruktur mehr gibt, dass es auch fast keine Tiere mehr gibt, denn die wurden ebenfalls verbrannt, verbrüht, erschlagen, vergraben oder von Wassermassen ertränkt.
Postapokalyptischer Roadtrip
Erzählerisch gibt es zwei Möglichkeiten diese neue Weltordnung anzugehen. Entweder man verliert sich im martialischen Nonsens der „Donnerkuppel“ oder erzählt eine individuelle Leidensgeschichte. Der größte Gewinn von Wild Card ist zugleich auch dessen größtes Problem, was nicht unerwähnt bleiben kann, nämlich die erhebliche inhaltliche Nähe zu Cormac McCarthys Die Straße. Es ähnelt sich nicht nur das grundsätzliche Szenario, sondern auch die Protagonisten und, und das wiegt wohl auch am Schwersten, das gesamte Roadtrip-Setting mit den dazugehörigen (genrespezifischen) Zwangsläufigkeiten. Was man dort gelesen hat, liest man auch hier und vice versa. Vieles kommt einem bekannt vor.
Echte Überraschungen gibt es nicht, ist aber wie gesagt, auch kaum möglich. Denn das Genre scheint auserzählt. Das ist natürlich der Leitidee der Apokalypse geschuldet. Wenn erst mal die gesamte bekannte Welt verschwunden ist, dann sind die Überlebenden immer auf die gleichen Grundbedürfnisse zurückgeworfen. Und alles dreht sich um eben diese fundamentale Einfachheit des (Über-)Lebens. Was wohl auch einen erheblichen Teil des Reizes der Geschichten ausmachen dürfte. Die Komplexität der modernen Welt spielt keine Rolle mehr. Das mehr oder minder archaische „Struggle for life“ übernimmt. Keine tägliche Arbeit mehr, keine Rechnungen, keine Steuererklärung, keine nervigen gesellschaftlichen Verpflichtungen. Der fantasierte Reiz des Einfachen, Notwendigen und Ambivalenz befreiten Daseins.
Realistische Erzählung
Nun ist Wild Card aber auch nicht einfach ein Abklatsch von McCarthys Die Straße. Befreit vom amerikanischen Pathos hat Nina Casement einen sehr europäischen postapokalyptischen Roadtrip geschrieben. Und das ist, ebenso wie das europäische Kino, eine wunderbare Abkehr von amerikanischen Narrativen. Im Mittelpunkt steht bei Casement weniger die (Post-)Apokalypse als vielmehr das physische wie psychische Überleben der Protagonistin, die zunächst völlig auf sich allein gelassen bestehen muss. Besonders fesselnd und herausragend ist die ausgezeichnete Recherchearbeit, die dem Roman zugrunde liegt.
Natürlich bin ich kein Geowissenschaftler oder Biologe und kenne dementsprechend auch nicht die realistischen Szenarios nach einem Meteoriteneinschlag. Aber das was Casement beschreibt, klingt weitestgehend plausibel, so dass ich zu keinem Zeitpunkt das Gefühl hatte, dass die Geschichte ins absurde abdriftet. Was bei ähnlichen Erzählungen durchaus öfter vorkommt. Immer wieder sind mir die grandiosen „Forschungsergebnisse“ von Casement aufgefallen. Man erkennt die ausgebildete Naturwissenschaftlerin. Aber es ist nicht nur das grundlegende Setting, das gut durchdacht ist. Auch die Hintergrundgeschichte der Erde in der nahen Zukunft, ist äußerst stimmig.
Der überwiegende und bislang ruhige Teil der informationspolitisch abgebrühten Bevölkerung war sich spätestens jetzt sicher, dass ihnen eine Katastrophe bevorstand. Jene aalte sich regelrecht in der Möglichkeit, dass ein Asteroid, dreimal so groß wie der, der die Dinosaurier in den Hades geschickt hatte, ihnen auf den Kopf krachen würde. Und nahm es gleichzeitig so ernst wie jedes andere Livestyleproblem: Nicht.
Hinzu kommt, dass der wesentliche Teil der Geschichte, nämlich das Seelenleben einer Endzeit-Nomadin hervorragend umgesetzt wurde. Was passiert mit einem Menschen, der monatelang mit niemandem sprechen kann. Was passiert körperlich und psychisch bei ernsthaften Ernährungsproblemen, bei ungewisser Zukunft, Überanstrengung oder Übermüdung? Wie reagiert man auf andere Überlebende, falls es diese überhaupt geben sollte? Wie verhindert man den nie enden wollenden Monolog des Ichs?
Absolut empfehlenswert
Letztlich kann ich Wild Card für all diejenigen unbedingt empfehlen, die McCarthys Die Straße nicht kennen. Aber auch denjenigen sei der Roman ans Herz gelegt. Denn Nina Casement hat einen äußerst eingängigen und angenehmen Schreibstil und weiß ihre Geschichte zu recherchieren und gut umzusetzen. Was aber das Entscheidendste ist: sie kann mit Sprache und Setting dermaßen gut umgehen, dass die wesentlichen Aspekte des Lesens erreicht werden: Gefühle wecken und eine (spannende) Geschichte erzählen. Mehrfach ging mir die Geschichte sehr nah und das schaffen nicht viele Autor*innen. Ich bin äußerst gespannt wie es mit Nina Casement zukünftig weitergeht.