Rezension zu "Wir sind das Urteil" von Nina Rudt
„Wir sind das Urteil“ spielt in einem dystopischen Deutschland, in dem Verurteilungen mittels einer App namens JUDGE gefällt werden. Alle Erwachsenen können sich daran beteiligen. Pinars Bruder Yasin wird angeklagt, seine Mitschülerin Charlotte mit Mordabsichten vor ein Auto geworfen zu haben und nun sollen die Menschen entscheiden, ob Yasin freigesprochen, inhaftiert oder gar zum Tod verurteilt wird. Dass Charlotte die Tochter des Mitentwicklers von JUDGE ist, macht den Fall besonders heikel und schon bald ist das Thema in aller Munde.
Vor der finalen Abstimmung sind drei Verhandlungstage eingeplant, die den Zuschauer:innen die Möglichkeit geben, alles über den Fall zu erfahren. Die Gerichtsverhandlungen sind spannend geschrieben und zeigen, wie schnell sich Menschen von Vorurteilen und Falschinformationen beeinflussen lassen. Dabei steht Aussage gegen Aussage, allerdings haftet an Yasin der Ruf eines Schlägertyps, was für ihn logischerweise in der Situation nicht gerade vorteilhaft ist. Charlotte dagegen hat durch ihr Hobby als Influencerin eine riesige Fangemeinde, die ihr jedes Wort abkauft. Das Kräfteverhältnis ist also schon zu Beginn unausgeglichen und für viele steht bereits fest, wer Schuld trägt.
Protagonistin Pinar und ihr Umfeld
Im Mittelpunkt der Geschichte steht allerdings nicht Yasin, sondern seine Schwester Pinar. Pinar ist eine sehr angenehme Protagonistin. Sie ist definitiv kein Mauerblümchen, aber die Situation und die hässlichen Reaktionen der Menschen schlagen ihr mit solch einer Wucht entgegen, dass sie dem Ganzen oft machtlos gegenübersteht. Denn obwohl Pinar nicht im Zentrum der Verhandlungen steht, wird auch sie in der Schule und dem Ort immer mehr gemieden, ausgegrenzt oder sogar angegriffen. Das fand ich heftig, vor allem, weil sich viele Menschen von der zunehmenden Stimmungsmache gegen Pinars Familie unreflektiert anstecken lassen. Pinar ist jedoch kein passiver Charakter, im Gegenteil. Sie versucht und organisiert alles Mögliche, um ihrem Bruder zu helfen und die Menschen wissen zu lassen, dass Charlotte nicht der Unschuldsengel ist, den sie nach außen hin vorgibt.
Pinar ist seit kurzem mit Charlottes Bruder Jonathan zusammen und der Vorfall stellt die Beziehung der zwei auf eine harte Probe. Obwohl Jonathan an Yasins Unschuld glaubt, möchte er sich verständlicherweise nicht komplett gegen seine Familie stellen und steht bald zwischen den Fronten. Die Zwiespältigkeit auf beiden Seiten kommt sehr gut rüber, denn auch Pinar fragt sich mehr als einmal, ob es trotz aller Liebe nicht besser wäre, die Beziehung wenigstens für eine unbestimmte Zeit auf Eis zu legen. Aller Widrigkeiten zum Trotz versuchen aber sowohl Jonathan als auch Pinar Verständnis für den jeweils anderen zu zeigen und sich gegenseitig zu unterstützen.
Auch Pinars Freundeskreis ist ganz wunderbar, denn ihre Freund:innen stehen Pinar in allen schlimmen Situationen zur Seite und halten ihr den Rücken frei.
Weit mehr als nur eine Justizgeschichte
Ab etwa der Hälfte des Buches geht es nicht mehr nur um die Suche nach der Wahrheit. Pinar und Yasin sehen sich nämlich aufgrund ihrer türkischen Wurzeln immer öfter rassistischen Beleidigungen ausgesetzt und werden deswegen teils massiv angegangen. Dass das überhaupt nichts mehr mit der Tat zu tun hat und wie weit einige Menschen bereit sind, klare Grenzen zu überschreiten, ist sehr erschreckend zu lesen. Die sozialen Netzwerke tragen einen Großteil zur fatalen Meinungsbildung bei, denn mit ihrer Hilfe sind viele Falschmeldungen im Umlauf und im Schutz der virtuellen Anonymität verbreiten einige Menschen wirklich widerliche Meinungen. Das Internet reicht einige Radikalen aber schon bald nicht mehr… Dass ein solches Vorgehen keine literarische Fiktion ist, macht die Geschichte umso beklemmender.
Das Finale nimmt nochmal eine drastische Wendung, die ich so nicht erwartet habe und für einen dramatischen Schluss sorgt.
Empfehlung
Ich hatte mit „Wir sind das Urteil“ spannende Lesestunden und kann das Buch daher klar empfehlen.