Rezension zu "Julian Schmidt - Eine Spurensuche (Lebensberichte – Zeitgeschichte)" von Norbert Otto
„Was für eine große, gewaltige Zeit machen wir durch. Ein späteres Jahrtausend wird sich darüber wundern, was für ungeheure Kerle wir gewesen sind!“ (Seite 193, Julian Schmidt an Fritz Reuter, undatiert)
Meine Meinung
Es ist seltsam, daß Menschen, die zu ihrer Zeit bestimmend und bekannt waren, nach einigen Jahrzehnten nahezu völlig der Vergessenheit anheim gefallen sind, wie groß ihr, auch fortwirkender, Einfluß zu Lebzeiten gewesen sein mag. So erging es Gustav Freytag - und auch dem in diesem Buch vorgestellten Julian Schmidt.
Julian Schmidt war mir in dem kürzlich gelesenen Buch von Philipp Böttcher „Gustav Freytag - Konstellationen des Realismus“ immer wieder als Freytags Wegbegleiter begegnet. Nun wollte ich mehr über ihn selbst erfahren, wozu diese zum 200. Geburtstag erschienene Biographie Gelegenheit gibt. In dieser wird, wie der Autor im Vorwort schreibt, nicht nur das Leben Schmidts erzählt, sondern auch sein Lebensumfeld ausführlich beschrieben. Auf diese Weise gelingt es Otto ungemein gut, Julian Schmidt so zum Leben zu erwecken, daß ich am Ende das Gefühl hatte, sein Leben direkt als Beobachter miterlebt zu haben.
Durch zahlreiche Quellen belegt, und diese immer wieder im Original zitiert, spannt der Biograph den Bogen von der Kindheit und Jugend Julian Schmidts über seine Studienjahre, die Zeit bei den „Grenzboten“ hin zu seinen Berliner Jahren und dem Ende. Dabei begegnen dem Leser viele Namen, die auch heute noch geläufig sind. So zählten etwa Gustav Freytag, Hermann Grimm, Heinrich von Treitschke, Theodor Mommsen, Wilhelm Dilthey oder Fritz Reuter zum teilweise engen Freundes- und Bekanntenkreis Schmidts. Freundschaften, die teilweise über Jahre und Jahrzehnte dauerten und sich über das berufliche hinaus auch privat bewährten. Was sogar so weit ging, daß Fritz Reuters Ehefrau Julian Schmidt bat, auf ihren Mann einzuwirken, daß dieser wegen seiner Alkoholprobleme endlich eine Kur machen solle (die selbiger auch antrat, also scheint die Einwirkung des Freundes Erfolg gehabt zu haben, vgl. S. 193).
Überdeutlich wird, daß es im 19. Jahrhundert eine von der heutigen Zeit sehr verschiedene war. Kam man sich näher, so legte einer dem anderen nahe, doch in die (geographische) Nähe zu ziehen. Denn wollte man in Kontakt bleiben, so ging dies entweder durch Briefe oder persönliche Besuche; nicht mal Telefon gab es damals. Ein Freund war noch ein Mensch aus Fleisch und Blut, und so weit entfernt, wie er entfernt wohnte. Heute, im Zeitalter des Internets, Facebook und Twitter, braucht es nur einen Mausklick, um jemanden als „Freund“ zu bezeichnen. Es mag jeder für sich selbst entscheiden, wen man von diesen zwei Arten von „Freunden“ mit Fug und recht als den wahren bezeichnen kann.
Indem Otto immer wieder aus Originaldokumenten, vor allem auch aus Briefen aus Julian Schmidts Nachlaß (in der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung), aber auch aus Dokumenten aus dem Goethe-Schiller Archiv Weimar zitiert, geriet die Biographie nicht zu einer rein sachlichen Berichterstattung über ein vergangenes Leben, sondern ich hatte von Anfang an das Gefühl, am Leben Schmidts teilzuhaben. So schlich sich ganz allmählich, je näher das Ende nicht nur des Buches rückte, eine zunehmende Melancholie ein, denn mit dem Alter verändern sich die Themen. Hat man in der Jugend vor Gesundheit und Tatenkraft gestrotzt, so zeigt sich nun das erste Zwicken und Zwacken - die Lebensjahre beginnen, ihren Tribut einzufordern, und mehr und mehr wird das körperliche Wohl- oder Unwohlbefinden Gegenstand nicht nur der Korrespondenz, sondern auch des Buches. Bis schließlich das Ende unausweichlich ist.
Was bleibt, ist eine ungemein gut lesbare Biographie und die Erkenntnis, daß manche Probleme unserer Zeit, die wir für spezifisch neu erachten, so neu nicht sind, sondern sich schon frühere Generationen damit herumgeschlagen haben. Das Schlußwort sei hier seinem langjährigen Wegbegleiter und Freund Gustav Freytag vorbehalten. Dieser schreibt in seinen „Erinnerungen aus meinem Leben“:
Der kleine Haushalt, in dem er [Julian Schmidt, Anm. Sicollier] mit der geliebten Frau waltete, wurde eine Stätte, an welche sich viele der besten und vornehmsten Geister der großen Stadt an dem Frieden, der seelenvollen Heiterkeit und den klugen Gedanken eines alten Vorkämpfers der deutschen Journalistik erfreuten. Denn durch sein ganzes Leben trug er in sich den Adel einer guten und kräftigen Menschennatur, Wahrhaftigkeit und Lauterkeit der Gesinnung, die Unschuld einer Kinderseele bei gereiftem Urteil und einem hochgebildeten Geiste, als ein reiner und guter Mann ohne Falsch, warmherzig, treu seinen Freunden. (Zitiert aus: Gustav Freytag „Aus meinem Leben“ Gesammelte Werke in 22 Bänden, Leipzig, Hirzel 2. Auflage 1896, Band 1, Seite 168; vgl. S. 213.)
Mein Fazit
Eine sehr gut lesbare Biographie über Julian Schmidt, der zu den Wegbereitern des Journalismus im 19. Jahrhundert zählte, ein Mitbegründer des Bürgerlichen Realismus und zu seiner Zeit ein bekannter, teilweise gefürchteter Literaturkritiker, war. Otto gibt einen tiefen Einblick in die damalige Zeit und literarische Welt. Überaus empfehlenswert.