Als Renè Descartes (1596 - 1650) die Welt in das denkende Subjekt und das nichtdenkende Objekt teilte, ahnte er wohl nicht, welches Blutbad der so aufgeklärte Mensch 150 Jahre danach unter dem Motto „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ anrichten würde. Friedrich von Hardenberg (1772 -1801), alias Novalis,, lehnte den kartesischen Rationalismus jedoch nicht ab, sondern studierte die Philosophie seiner Nachfolger, Immanuel Kant (1724 - 1804) und Johann Gottlieb Fichte (1762 - 18 14) gründlich.
Aus „„Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ werden die „Hymnen an die Nacht“ sowie der Ausspruch des Arztes und Einsiedlers am Ende des Romanfragments: „Allerdings ist das Gewissen, sagte Sylvester, der eingeborne Mittler jedes Menschen. Es vertritt die Stelle Gottes auf Erden, und ist daher so Vielen das höchste und lezte.“
Fichtes „Ich“, das sich von allem „Nicht-Ich“ abgrenzt, nimmt Novalis zum Ausgangspunkt für seine Liebesreligion. Das Nicht-Ich“ wird nun zum „Du“, zum gleichwertigen Subjekt, womit die kartesische Subjekt-Objekt-Spaltung aufgehoben wird.
Die verstorbene, kindliche Verlobte Hardenbergs, Sophie von Kühn (1782 - 1797), erhält die Züge von Mathilde, die Heinrich am Ende des ersten Teils mit dem Titel „Die Erwartung“ ehelicht. Bereits vor ihrem Tod verschwimmt ihr Bild mit dem der anderen weiblichen Romanfiguren und findet schließlich seinen Höhepunkt in der blauen Blume, die Novalis an den Anfang des Romans setzt.
„Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst; fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn' ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anders dichten und denken. So ist mir noch nie zu Muthe gewesen: es ist, als hätt' ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert; denn in der Welt, in der ich sonst lebte, wer hätte da sich um Blumen bekümmert, und gar von einer so seltsamen Leidenschaft für eine Blume hab' ich damals nie gehört.“
Hardenberg beantwortet also die, durch Descartes eingeläutete und durch die Aufklärung verstärkte transzendentale Obdachlosigkeit mit dem Pantheismus. “Glücklicher Vater, sagte Heinrich, euer Garten ist die Welt. Ruinen sind die Mütter dieser blühenden Kinder. Die bunte, lebendige Schöpfung zieht ihre Nahrung aus den Trümmern vergangner Zeiten.“
Der Erste, der auf die französischen „Trümmer“ reagierte, war Fichte mit seiner, schon erwähnten Ich-Philosophie. Nicht gewaltsame Umbrüche sollten die Welt verändern, sondern die ästhetische Erziehung und Selbstoptimierung jedes einzelnen Menschen. Um dieses Ziel zu erreichen, setze sich das „Ich“ in dem Moment, wo es sich als „absolutes Ich“ begreift, ein „Nicht-Ich“. Fortan beginne ein Dialog zwischen beiden, der die Widersprüche zwischen dem Bewusstsein und der Welt zunehmend synthetisiere.
Novalis erkennt den Zirkelschluss, den Fichte hier begehrt und der auch durch den dritten Grundsatz der “Wissenschaftslehre“ nicht aufgehoben wird. In den „Fichte-Studien“ schreibt er: „Was die Reflexion findet, scheint schon da zu seyn.“ Ein „Ich“, das sich selbst bereits erkannt hat, benötigt kein „Nicht-Ich“ mehr, um seiner selbst bewusst zu sein. Hardenberg löst die Paradoxie, in dem er das Selbstbewusstsein durch ein Selbstgefühl ersetzt und die Wissenschaften sowie die Kunst zum Mittler werden lässt. In den „Logischen Fragmenten“ notiert er: „Ich = NichtIch – höchster Satz aller Wissenschaft und Kunst.“
In „Heinrich von Afterdingen“, wie der Roman ursprünglich hieß, schreibt er: „Die Wunderblume stand vor ihm, und er sah nach Thüringen, welches er jetzt hinter sich ließ mit der seltsamen Ahndung hinüber, als werde er nach langen Wanderungen von der Weltgegend her, nach welcher sie jetzt reisten, in sein Vaterland zurückkommen, und als reise er daher diesem eigentlich zu.“
Das klassische Motiv des Bildungsromans, die Reise, wird bei Novalis zu einer, in die Außenwelt gespiegelten Innenschau, die schließlich den Dichter hervorbringt, der bereits in ihm angelegt ist.
Besonders deutlich wird dies, als Heinrich in einen Berg eindringt und dort in einem Buch seine eigene Lebensgeschichte entdeckt. „Er sah sein Ebenbild in verschiedenen Lagen.“
Der Roman ist in einem romantisierten Mittelalter angesiedelt, das sich von der entzauberten Welt der Aufklärung stark abhebt. Selbst die Kreuzzüge erfahren eine Erhöhung, auch wenn sie wenige Seiten später durch die Figur der Morgenländern Zulima wieder relativiert werden: „Alle besahen das prächtige Schwerdt, auch Heinrich nahm es in seine Hand, und fühlte sich von einer kriegerischen Begeisterung ergriffen.“ … „Heinrichs ganze Seele war in Aufruhr, das Grab kam ihm wie eine bleiche, edle, jugendliche Gestalt vor, die auf einem großen Stein mitten unter wildem Pöbel säße, und auf eine entsetzliche Weise gemißhandelt würde, als wenn sie mit kummervollen Gesichte nach einem Kreuze blicke, was im Hintergrunde mit lichten Zügen schimmerte, und sich in den bewegten Wellen eines Meeres unendlich vervielfältigte.“
Dem entgegnet Zulima: „Glaubt ja nicht, was man euch von den Grausamkeiten meiner Landsleute erzählt hat. Nirgends wurden Gefangene großmüthiger behandelt, und auch eure Pilger nach Jerusalem wurden mit Gastfreundschaft aufgenommen, nur daß sie selten derselben werth waren. Die Meisten waren nichtsnutzige, böse Menschen, die ihre Wallfahrten mit Bubenstücken bezeichneten, und dadurch freylich oft gerechter Rache in die Hände fielen. Wie ruhig hatten die Christen das heilige Grab besuchen können, ohne nöthig zu haben, einen fürchterlichen, unnützen Krieg anzufangen, der alles erbittert, unendliches Elend verbreitet, und auf immer das Morgenland von Europa getrennt hat.“
Novalis versöhnt die Welt bereits im Märchen Klingsohrs am Ende des ersten Teils, in dem er Raum und Zeit in einer durchsichtig gewordenen Gegenwart, in der Dichtung auflöst; den zweiten mit dem Titel „Die Erfüllung“.beginnt er mit Versen unter der Überschrift „Astralis“. Darin heißt es:
„Keine Ordnung mehr nach Raum und Zeit Hier Zukunft in der Vergangenheit.‹ Der Liebe Reich ist aufgethan Die Fabel fängt zu spinnen an.“
Ludwig Tieck (1773 - 1853) schreibt in seinem Bericht über die Fortsetzung des unvollendeten Romans: „Dem Dichter, welcher das Wesen seiner Kunst im Mittelpunkt ergriffen hat, erscheint nichts wiedersprechend und fremd, ihm sind die Rätsel gelöst, durch die Magie der Fantasie kann er alle Zeitalter und Welten verknüpfen, die Wunder verschwinden und alles verwandelt sich in Wunder: so ist dieses Buch gedichtet, und besonders findet der Leser in dem Mährchen, welches den ersten Theil beschließt, die kühnsten Verknüpfungen; hier sind alle Unterschiede aufgehoben, durch welche Zeitalter von ein ander getrennt erscheinen, und eine Welt der andern als feindselig begegnet.“
Die kartesische Ratio wird bei „Heinrich von Ofterdingen“ schnell an seine Grenzen stoßen, Handlung und Dramaturgie vermissen und sich auch an Novalis Kenntnissen der Mineralien wenig erfreuen können. Liest frau das Fragment jedoch wie die beiden Teile der Bibel, wird sich vielleicht für einige Leser/innen der Himmel auftun und sie die Herrlichkeit Gottes schauen.
„Die alten Geschichten und Schriften sind jetzt die einzigen Quellen, durch die uns eine Kenntniß von der überirdischen Welt, so weit wir sie nöthig haben, zu Theil wird; und statt jener ausdrücklichen Offenbarungen redet jetzt der heilige Geist mittelbar durch den Verstand kluger und wohlgesinnter Männer und durch die Lebensweise und die Schicksale frommer Menschen zu uns.“
„Mich dünkt der Traum eine Schutzwehr gegen die Regelmäßigkeit und Gewöhnlichkeit des Lebens, eine freye Erholung der gebundenen Fantasie, wo sie alle Bilder des Lebens durcheinanderwirft, und die beständige Ernsthaftigkeit des erwachsenen Menschen durch ein fröhliches Kinderspiel unterbricht.“
„Eine liebliche Armuth schmückte diese Zeiten mit einer eigenthümlichen ernsten und unschuldigen Einfalt; und die sparsam vertheilten Kleinodien glänzten desto bedeutender in dieser Dämmerung, und erfüllten ein sinniges Gemüth mit wunderbaren Erwartungen.“
„Ich weiß nicht, aber mich dünkt, ich sähe zwey Wege um zur Wissenschaft der menschlichen Geschichte zu gelangen. Der eine, mühsam und unabsehlich, mit unzähligen Krümmungen, der Weg der Erfahrung; der andere, fast Ein Sprung nur, der Weg der innern Betrachtung.“
„Die Natur will selbst auch einen Genuß von ihrer großen Künstlichkeit haben, und darum hat sie sich in Menschen verwandelt, wo sie nun selber sich über ihre Herrlichkeit freut, das Angenehme und Liebliche von den Dingen absondert, und es auf solche Art allein hervorbringt, daß sie es auf mannichfaltigere Weise, und zu allen Zeiten und allen Orten haben und genießen kann.“
„Frieden der Seele und innres seeliges Anschauen einer selbst geschaffenen, glücklichen Welt war das Eigenthum dieser wunderbaren Zeit geworden, und die Zwietracht erschien nur in den alten Sagen der Dichter, als eine ehemalige Feindinn der Menschen.“
„… der Mond zeigte ihm das Bild eines tröstenden Zuschauers und erhob ihn über die Unebenheiten der Erdoberfläche, die in der Höhe so unbeträchtlich erschienen, so wild und unersteiglich sie auch dem Wanderer vorkamen.“
„Als Eigenthum verwandelt sie sich in ein böses Gift, was die Ruhe verscheucht, und die verderbliche Lust, alles in diesen Kreis des Besitzers zu ziehn, mit einem Gefolge von unendlichen Sorgen und wilden Leidenschaften herbeylockt. So untergräbt sie heimlich den Grund des Eigenthümers, und begräbt ihn bald in den einbrechenden Abgrund, um aus Hand in Hand zu gehen, und so ihre Neigung, Allen anzugehören, allmählich zu befriedigen.“
„Es sind die Dichter, diese seltenen Zugmenschen, die zuweilen durch unsere Wohnsitze wandeln, und überall den alten ehrwürdigen Dienst der Menschheit und ihrer ersten Götter, der Gestirne, des Frühlings, der Liebe, des Glücks, der Fruchtbarkeit, der Gesundheit, und des Frohsinns erneuern; sie, die schon hier im Besitz der himmlischen Ruhe sind, und von keinen thörichten Begierden umhergetrieben, nur den Duft der irdischen Früchte einathmen, ohne sie zu verzehren und dann unwiderruflich an die Unterwelt gekettet zu seyn.“
„Der Lebensgenuß stand wie ein klingender Baum voll goldener Früchte vor ihm. Das Übel ließ sich nicht sehen, und es dünkte ihm unmöglich, daß je die menschliche Neigung von diesem Baume zu der gefährlichen Frucht des Erkenntnisses, zu dem Baume des Krieges sich gewendet haben sollte.“
„Aber selbst der dunkelste Körper kann durch Wasser, Feuer und Luft dahin gebracht werden, daß er hell und glänzend wird.“
„Aber sagt mir, lieber Meister, ob ich recht habe: mich dünkt, daß man gerade wenn man am innigsten mit der Natur vertraut ist am wenigsten von ihr sagen könnte und möchte.“
„Ja Mathilde, die höhere Welt ist uns näher, als wir gewöhnlich denken. Schon hier leben wir in ihr, und wir erblicken sie auf das Innigste mit der irdischen Natur verwebt.“
„Aus Schmerzen wird die neue Welt geboren, und in Thränen wird die Asche zum Trank des ewigen Lebens aufgelöst. In jedem wohnt die himmlische Mutter, um jedes Kind ewig zu gebären. Fühlt ihr die süße Geburt im Klopfen eurer Brust?“
„Ihr habt von Glück zu sagen, daß ihr habt aufwachsen dürfen, ohne von euren Eltern die mindeste Beschränkung zu leiden, denn die Meisten Menschen sind nur Überbleibsel eines vollen Gastmahls, das Menschen von verschiednen Appetit und Geschmack geplündert haben."
„Ich weiß nur so viel, daß für mich die Fabel Gesamtwerckzeug meiner gegenwärtigen Welt ist.“
„O! trefflicher Vater, unterbrach ihn Heinrich, mit welcher Freude erfüllt mich das Licht, was aus euren Worten ausgeht. Also ist der wahre Geist der Fabel eine freundliche Verkleidung des Geistes der Tugend, und der eigentliche Zweck der untergeordneten Dichtkunst die Regsamkeit des höchsten, eigenthümlichsten Daseyns.“
Was ist dem noch hinzuzufügen? Mein herzlicher Dank an Friedrich von Hardenberg für diese Bereicherung der Welt.
Vera Seidl