Oleg Senzow

 4,7 Sterne bei 3 Bewertungen
Autor*in von Leben und Haft.
Autorenbild von Oleg Senzow (©Eva Vradiy)

Lebenslauf

Oleg Senzow, geb. 1976 in Simferopol auf der Halbinsel Krim, ist ukrainischer Autor und Filmemacher. Kurzfilme: »Ein idealer Tag für Bananenfische« (2008) nach der Erzählung von J. D. Salinger und »Das Jahr des Stiers« (2009). Sein erster Langspielfilm »Gamer« (2011) lief mit beachtlichem Erfolg auf internationalen Filmfestivals. Außerdem schrieb Senzow einen Roman und eine Anzahl autobiografischer Erzählungen, von denen die acht Geschichten des vorliegenden Bandes 2015 erstmals im Verlag Laurus auf Russisch erschienen sind. 2013/14 unterstützte er den Maidan in der Ukraine, während der Annexion der Krim durch Russland im Frühjahr 2014 leistete er humanitäre Hilfe. Am 11. Mai 2014 wurde er zugleich mit drei weiteren Aktivisten wegen angeblicher terroristischer Handlungen vom russländischen Inlandsgeheimdienst FSB in Simferopol festgenommen. Die Anklage lautete auf Gründung einer terroristischen Vereinigung, Senzow wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt. Die Menschenrechtsorganisationen Memorial und Amnesty International schätzen das Verfahren und Urteil gegen Senzow als politisch motiviert und vorfabriziert ein und stellten gravierende Verstöße gegen internationale Rechtsnormen fest. Im Mai 2018 trat Senzow in einen unbefristeten Hungerstreik, den er wegen seines kritischen Gesundheitszustandes im Oktober 2018 abbrach. Zahlreiche Medien, Intellektuelle und AktivistInnen schrieben über den Fall. Insbesondere während der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland im Juni 2018 fanden Protestaktionen in aller Welt statt. 2018 verlieh das Europäische Parlament den Sacharow-Preis für Menschenrechte an Oleg Senzow. Bisher blieben alle Aktionen ohne Resultat, Senzow sitzt nach wie vor im Straflager Nr. 8 in Labytnangi nördlich des Polarkreises in Haft.

Alle Bücher von Oleg Senzow

Cover des Buches Leben (ISBN: 9783863912345)

Leben

(2)
Erschienen am 25.03.2019
Cover des Buches Haft (ISBN: 9783863912925)

Haft

(1)
Erschienen am 15.11.2021

Neue Rezensionen zu Oleg Senzow

Cover des Buches Haft (ISBN: 9783863912925)
Federfees avatar

Rezension zu "Haft" von Oleg Senzow

Federfee
Oleg Senzows beeindruckendes Hungerstreik-Tagebuch

Bisher von mir vernachlässigt: moderne ukrainische und russische Schriftsteller, die mir Aufschluss über die Verhältnisse in diesen Ländern geben und mir helfen sollen, mehr zu verstehen, die Ungeheuerlichkeiten zu erklären, falls das überhaupt geht. Deshalb lege ich im Moment den Schwerpunkt auf diese Lektüre, hier das Tagebuch eines langen Hungerstreiks in einem Straflager am Polarkreis.

Der Bogen spannt sich von Dostojewskis 'Aufzeichnungen aus einem toten Haus' über die Stalinzeit, den 'Archipel Gulag' bis in die heutige Diktatur: Regimekritiker und Andersdenkende unter fadenscheinigen Urteilen wegzusperren, in Straflager zu schicken, das scheint nicht aufzuhören und ist aktueller denn je.

So ging es auch dem russischsprachigen, ethnisch russischen, von der Krim stammenden ukrainischen Regisseur und Filmemacher Oleg Senzow (Sentsov). Weil er sich auf dem Maidan engagiert und gegen die Annexion der Krim gewandt hatte, wurde er eines Tages plötzlich verhaftet und wegen unter Folter entstandener Beschuldigungen durch andere zu 20 Jahren Haft verurteilt.

Frage eines Arztes im Lager: 'Er wollte wissen, wofür ich zwanzig Jahre bekommen habe. Eine gute Frage. Das würde mich auch mal interessieren.' (eBook 32)

Manchmal ist es gut, wenn man als Leser weiß, dass eine schlimme Sache gut ausgeht – soweit man das unter den heutigen Umständen (Krieg in der Ukraine) sagen kann. Aber Oleg Senzow, Regisseur, Filmemacher, Aktivist, hat seinen  Hungerstreik überlebt und wurde zusammen mit anderen ukrainischen Gefangenen auf Betreiben des Präsidenten Selenskyi nach fünf Jahren im Austausch freigelassen. Jetzt kämpft er in der ukrainischen Armee und ich weiß nicht einmal, wie es ihm geht und ob er noch lebt.

Damals hingen Gesundheit und Leben nach unglaublichen 145! Tagen Hungerstreik am seidenen Faden. Mit dieser Aktion wollte er seine eigene Freilassung und die von anderen politischen Gefangenen erreichen. Anfangs dachte ich, ob es sinnvoll ist, Gesundheit und Leben zu riskieren, möglicherweise erfolglos? Andererseits: wer will schon 20 Jahre in einem Straflager leben, wenn man das überhaupt Leben nennen kann. - Außerdem wurde die Öffentlichkeit dadurch auf seinen Fall aufmerksam und höchste Kreise (G 7) und bekannte Politiker, z.B. Macron, setzten sich für ihn ein. Wie es im Einzelnen am Ende ausgegangen ist, will ich nicht verraten.

Oleg Sentsov ist 42 Jahre alt und hat schon fünf Jahre Haft hinter sich, als er seinen Hungerstreik beginnt und ich kann nur sagen: trotz einer gewissen Gleichförmigkeit seiner Tagebucheinträge ließ mich sein Bericht nicht mehr los und meine Bewunderung für diesen gradlinigen aufrechten Menschen wurde immer größer.

Erstaunlich auch, dass er die Kraft aufgebracht hat, jeden Tag etwas zu schreiben, aber vielleicht hat ihm gerade das geholfen. Immer wiederkehrende Themen sind das Wetter (sehr schön beschrieben), Träume, sein körperlicher und psychischer Zustand, Filme und Bücher (Lem, Nabokov, Steinbeck u.a.), die chaotischen Ereignisse auf dem Maidan, die ärztliche Betreuung.

Er darf sogar mit anderen Häftlingen die Fußballweltmeisterschaft gucken, die ihm als willkommene Ablenkung dient, die er aber auch kritisch sieht:

'Ich kann einfach nicht ausblenden, dass dieses Fußballfest von Schurken veranstaltet wird, die hinter der schönen Fassade ihre Verbrechen verbergen und die Weltgemeinschaft ablenken wollen. Die so tun, als gäbe es weder die besetzte Krim noch die zehntausend Toten im Donbass noch die abgeschossene Boeing, das zerbombte Aleppo und, und, und (eBook 157).

Er wird ärztlich betreut, bekommt Infusionen mit Vitaminen, Salzen, Mineralien und Aminosäuren, nimmt aber keinerlei Nahrung zu sich, obwohl ihm täglich dreimal Essen hingestellt wird. Alles wird dokumentiert, er wird ständig per Videokamera überwacht und bekommt oft Besuch von Beamten aus russischen Behörden, die ihn zum Aufgeben überreden wollen, erfolglos. Er ist ein unglaublich starker Mensch und das hat mir unsagbar imponiert.

Senzow selbst schätzt sein Buch als' monoton, ereignisarm und stilistisch schwach' ein (eBook 329). Doch nein, da ist er zu hart mit sich selbst. Ereignisarm ja, aber ansonsten sprachlich auf erhöhtem Niveau und ein wichtiges Zeitzeugnis. Als solches habe ich es trotz einer gewissen Eintönigkeit gelesen und es nicht bereut.

Ich denke aber, dass es nur jemand lesen sollte, der sich für das Thema 'Zustände in russischen Straflagern', hier übrigens Labytnangi am Polarkreis, interessiert. Am Ende des Buches sind noch 'Erzählungen' genannte Porträts von unterschiedlichsten Mitgefangenen angefügt, die aber gerade das Lagerleben, die Schikanen und Misshandlungen deutlich illustrieren.

Zitate

'… dass die Ukraine für ihn (Putin) kein richtiger Staat sei, dass wir unsere Nationalisten abschütteln und reumütig in den mütterlichen Schoß zurückkehren sollten.'
die Illusion, 'die Sowjetunion werde zu neuem Leben erwachen.' (eBook 93)
Agressive Propaganda, primitivste Talkshows: 'Die Leute umnachten und verblöden.'
'Einfache Logik! Was im Fernsehen gezeigt wird, stimmt. (eBook 257)
'In den vielen Beamtenköpfen in diesem Land steckt die Sowjetunion noch immer tief drin – wie ein Gehirntumor. Und das Schlimmste ist, dass diese Krankheit ansteckend ist und auch die junge Leute befällt, die die Zeit des kollabierten Monsters nicht miterlebt haben.' (eBook 247)

Wer Oleg Senzow sehen möchte: hier bei YouTube / European Parliament:

https://youtu.be/5UqBMVShR0Q

Und natürlich würde man gerne wissen, wie es ihm jetzt geht. Dazu ein ganz kurzes Video (Arte.TV) mit ihm als ukrainischem Soldaten:

https://youtu.be/fPZ_MlUbDTM

Cover des Buches Leben (ISBN: 9783863912345)
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Rezension zu "Leben" von Oleg Senzow

Federfee
Oleg Senzows Kindheit und Jugend auf der Krim

Bisher sträflich von mir vernachlässigt: ukrainische Schriftsteller und über Russland und die Ukraine besser Bescheid zu wissen. Das will ich jetzt nachholen, so gut es geht und will alles lesen, was mir dazu in die Finger fällt.

Dieser kurze Bericht des ethnischen Russen ukrainischer Staatsbürgerschaft, auf der Krim geboren und aufgewachsen, umfasst in losen, nicht chronologischen Texten seine Kindheit und Jugend, seine Liebe zu einem Hund, seine Familie, seine teilweise desaströsen Schulerlebnisse, die ihn aber lehrten, Psychoterror auszuhalten und nie aufzugeben.

'Nicht aufgeben. Sich stets treu bleiben. Und: nicht unbedingt versuchen, wie die anderen zu sein.'

Sie geben auch Einblick, welche Einflüsse diesen tapferen, unbeugsamen Mann geformt haben, der sich später auf dem Maidan engagiert und die Annexion der Krim verurteilt hat. Dass er dafür bitter bezahlen musste, beschreibt er in einem Straflager-Tagebuch, das ich auch lesen werde. Es scheint, als ob ihm einige Kindheitserinnerungen Kraft und Stärke geschenkt hätten.

'Meine Welt war begrenzt, hatte aber keine Grenzen. Sie war voll, eine Schale voll kindlichem Glück.' ('kindlichen Glücks' müsste es eigentlich heißen).

Cover des Buches Leben (ISBN: 9783863912345)
blaustrumpfines avatar

Rezension zu "Leben" von Oleg Senzow

blaustrumpfine
„Nicht aufgeben. Sich stets treu bleiben. Und: nicht unbedingt versuchen, wie die anderen zu sein.“

Oleg Senzow, der ukrainische Filmemacher von der Krim, sitzt seit 2014 in russischer Gefangenschaft, zunächst in U-Haft und seit 2015, nach einem fragwürdigen, politisch motivierten Verfahren, im Straflager (anfangs in Jakutien, mittlerweile in Labytnangi nördlich des Polarkreises). Und zwar vor allem dafür, wie der ukrainische Autor Andrej Kurkow in seinem Geleitwort zum Buch schreibt, dass er, ein ethnischer Russe und Bewohner der Krim, es gewagt hat, mit der Annexion seiner Heimat durch Russland nicht einverstanden zu sein.

Die acht Erzählungen sind 2015 in Kiew und nun glücklicherweise bei Voland & Quist auch auf Deutsch erschienen. Die Texte sind autobiographisch und handeln von Senzows Kindheit und Jugend auf der Krim. Dort wuchs er in ländlichen, bildungsnahen Verhältnissen auf, las viel und überstand im Alter von zwölf eine halbjährige Lähmung der Beine. Wie ihn das Aufwachsen auf dem Dorf, die Liebe zu seinem Hund und das Zusammenleben mit mehreren Generationen unter einem Dach geprägt haben, beschreibt er in diesen Geschichten unsentimental und ehrlich. Dabei wirft er einen kritischen Blick sowohl auf seine Mitmenschen - so ist ihm zum Beispiel die Heuchelei des sowjetischen Schulsystems zuwider - als auch auf sich selbst: Nachdem er in einer entscheidenden Situation einen schutzbedürftigen Krankenhausnachbarn im Stich gelassen hat, schwört er sich, nie wieder zu schweigen, wenn jemand gedemütigt wird.

Die Erzählungen berühren in ihrer Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit. Obwohl sie von sehr konkreten persönlichen Erinnerungen handeln, sind sie zugleich universell und evozieren das Licht, aber auch die Schattenseiten der Kindheit. In einer direkten und poetischen Sprache, die sich auch im Deutschen wunderbar liest, werden das Leben in der damaligen UdSSR, aber auch Themen wie Außenseitertum, Mobbing und persönliches Wachstum treffend skizziert. Unbedingt lesenswert!!!

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