Cover des Buches Gott ist nicht schüchtern (ISBN: 9783351036652)
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Rezension zu Gott ist nicht schüchtern von Olga Grjasnowa

Flüchtlingsroman

von leselea vor 7 Jahren

Kurzmeinung: Thematisch zweifellos ein wichtiger und großer Roman, dessen Umsetzung jedoch Schwächen aufweist. Nichtsdestotrotz: Lesen!

Rezension

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leseleavor 7 Jahren

Hammoudi ahnt, dass die Revolution gescheitert ist. Es wird kein neues Syrien geben. Etwas Grässliches wird an seine Stelle treten... (S. 101)

Flüchtlingskrise! Flüchtlingswelle, ja Flüchtlingsansturm! Daher eine Flüchtlingsobergrenze, definitiv! Seit dem Sommer 2015 beschäftigt die große Zuwanderung von Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak die deutsche Politik, die deutschen Medien und die deutsche Bevölkerung. Unsere Sprache hat mit ihrer schieren Kompositionsfreudigkeit dabei solche Wortfloskeln wie die oberen hervorgebracht, die seitdem weder in den offiziellen Diskussionen noch an den Stammtischen fehlen dürfen. Doch wer versteckt sich hinter dieser Welle? Welche tragischen Schicksale führten zu dieser Krise? Und was wollen wir hier eigentlich begrenzen? Die Verwendung der Abstrakta macht es möglich, die Menschen, die hinter ihnen stehen, auszublenden. Und genau diesem Ausblenden setzt Olga Grjasnowa im Frühjahr 2017 ihren dritten Roman Gott ist nicht schüchtern entgegen.

Erzählt wird ganz konkret von Amal und Hammoudi, zwei Syrern. Die eine ist Schauspielerin, die mit einer Soap in ihrem Heimatland erste Erfolge feiern konnten, der andere ist Chirug, lebt in Frankreich und ist befindet sich auf Heimatbesuch, um seinen Pass zu verlängern. Beide sind nicht großartig politisch, sondern in erster Linie an einem guten Leben interessiert: Sie sind dem Westen und seinen Werten zugewandt, sprechen mehrere Sprachen und lieben das globalisierte Leben mit seinen Errungenschaften. Doch 2011 erblüht auch in Syrien der Arabische Frühling und Amal und Hammoudi werden wie viele ihrer Landsleute mitgerissen: Sie finden sich auf Demonstrationen wieder, prangern die Korruption und die Macht der Geheimdienste an und fordern die Freiheit der Gedanken. Doch die Revolution scheitert, der Bürgerkrieg beginnt und Amal und Hammoudi geraten in Gefahr. Als ihnen nichts anderes mehr übrig bleibt, machen sie sich auf nach Europa – ein Weg, der nicht weniger gefährlich ist als die Situation, aus der sie fliehen…

Thematisch halte ich Olga Grjasnowas Roman Gott ist nicht schüchtern für ein zweifellos wichtiges Buch, das eine uneingeschränkte Leseempfehlung erhält. Detailliert schildert sie den Alltag in Syrien, die Mentalität der Bewohner, den kulturellen Reichtum des Landes, aber eben auch die Omnipräsenz von Bestechung, Bespitzlung und Beschneidung grundsätzlicher Freiheiten. Sie zeigt, aus was für einem normalen Leben viele Syrer durch die Revolution und den Bürgerkrieg gerissen wurden und verdeutlicht, dass zurzeit Tausende Menschen ein Land verlassen, das sie über alles lieben, das ihnen aber kein Schutz mehr bieten, sondern im Gegenteil nur noch den Tod bringen kann. Bei der Lektüre ist man nah an den Menschen, denn es wird offensichtlich: Unter den schlimmsten Umständen kann diese Situation jeden treffen – auch uns Deutsche, die aus einer sehr privilegierten (weil sicheren) Situation heraus darüber diskutieren, wann unsere Hilfe ihre Grenze erreicht.

Dieses große Thema, das Olga Grjasnowa hier engagiert und mit Überzeugung angeht, hätte meiner Meinung nach eine ebenso große Umsetzung verdient gehabt. Leider hapert es daran (und streckenweise nicht zu knapp), sodass ich Gott ist nicht schüchtern bei aller Wichtigkeit nur 4 Sterne geben kann. Das liegt vor allem am Erzählstil des Romans: Die Geschichte ist sprachlich sehr einfach und sehr schlicht gehalten, der Text besteht – ähnlich wie eine journalistische Reportage – hauptsächlich aus Beschreibungen, Einordnungen und Erläuterungen. Große Emotionen oder auch Nähe zu den Figuren bleiben dabei auf der Strecke. Das muss zwar nicht immer negativ sein – gerade mit dieser kühlen Sachlichkeit erzeugt Grjasnowa immer wieder Szenen mit Wucht, die Schilderung der Flucht über das Mittelmeer beispielsweise eignet sich eindrucksvoll zur Pflichtlektüre -, doch insgesamt macht sie es dem Leser meiner Meinung nach damit zu leicht: Zu einfach kann man bei der Lektüre auf Distanz gehen, zu sehr die Gräueltaten überlesen. Ich hätte mir gewünscht, dass sie den (westlichen) Leser hier mehr fordert, ja eigentlich alles von ihm abverlangt und ihn zwingt, sich seiner Verantwortung zu stellen. Das kann sie, wie Szenen wie die oben erwähnte zeigen, doch sie tut es mir auf über 300 Seiten zu wenig und nicht konsequent genug. Hinzu kommen zu viele unnötige Schlenker in der Handlung (vor allem in der Geschichte um Amal), die für die eigentliche Erzählung und ihre Botschaft unerheblich sind und gerade darin zu stark mit der stilistischen Knappheit kontrastieren. Zuletzt fällt das Ende (vor allem im Vergleich zu dem sehr starken Mittelteil) zu sehr ab: Hier hätte ich mir einen scharfen Blick auf das Asylverfahren gewünscht, eine kontinuierliche Weiterentwicklung der vorangegangenen Analyse. Stattdessen entspinnt sich vor allem um die Figur der Amal eine unglaubwürdige Story, während Hammoudis Schicksal zu plakativ politisch instrumentalisiert wird.

Gott ist nicht schüchtern trägt eindeutig Grjasnowas Handschrift, ist für mich aber kaum mit ihrem Debüt Der Russe ist einer der Birken liebt und ihrem zweiten Roman Die juristische Unschärfe einer Ehe zu vergleichen: Das Motiv der Heimatsuche kommt in einem neuen Gewand daher, in ihrer klaren Sprache verzichtet sie auf die Energie, die vor allem in ihrem Erstling stark zu spüren war. Ich gestehe, dass mir der Ton in den beiden Vorgängerbüchern lieber war, dass ich die Änderungen gleichzeitig aber interessant finde und gespannt auf die weitere Entwicklung der Autorin blicke.

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