Als ein Journalist Olga Martynova fragt, worum es in ihrem Roman "Mörikes Schlüsselbein" geht, sagt sie lachend: Das ist eine sehr schwere Frage. Dennoch will ich diese Rezension versuchen.
Auf den ersten Blick ist es eine Collage aus miteinander verwobenen Leben. Schlaglichter. Der Mann, der nach zwanzig Jahren seine Jugendliebe wiedergefunden und geheiratet hat. Seine beiden erwachselnden Kinder aus erster Ehe, die mit dem Groß- und Ernstwerden fremdeln. Die Freunde, aus Russland und den USA, die sich seit Jahrzehnten kennen und immer wieder irgendwo auf dem Erdball treffen. Schlaglichtartig wirft Martynova ihren Blick mal auf diesen mal auf jenen, verschränkt das Leiden und Kranksein und Zaudern und Nachdenken und Abenteurern miteinander.
Und sie verstrickt sie in anderen Ebenen. Martynova spielt mit dem Schein und dem Sein. Mit der Macht des Erzählens, des Erzählers, der Erzählung. Denn der Mann, sein Sohn, einige Freunde, sie alle sind Schriftsteller. Sie erzählen und weben. Die Geschichten gehen so schnell ineinander über, werden erzählt, angekündigt, angedeutet. Der Leser kann nie sicher sein, was gerade wirklich passiert, wen es wirklich gibt, was passiert und was erdacht ist. Und er fragt sich unwillkürklich, ob dieses Wissen überhaupt nötig ist. Denn entscheidend ist nur, was der Leser glaubt, was wahr ist und was nicht.
Und so bietet Martynova hochgradig Realistisches wie verspielt Fantastisches an. Wir können zubeißen oder skeptisch die Stirn runzeln, wer hier jetzt eigentlich von wem erzählt. Je weiter die Kapitel voranschreiten, desto öfter stellt sich die Frage. Dabei ist das Buch von der ersten bis zur letzten Seite so ideenreich, leichtfüßig und sprachspielerisch, dass es einfach nur Spaß macht dieser Reise durch Schein und Sein, Märchen und Alltag, Schreiben und Leben, Kalten Kriegsresten und Geschichtchen zu folgen.
Mit einem Kapitel aus Mörikes Schlüsselbein erlas Martynova sich vor einigen Jahren den Bachmann-Preis. Der Roman zeigt: völlig zu Recht. Nur die Figuren, sie bleiben in der Spielerei zu oft Werkzeug und werden zu wenig lebendig. Sie bleiben eher als Prototypen skizziert als als Individuen coloriert. Das schmälert den Spaß, aber nur ein bisschen.