“Dieser Vater ist ein wenig jünger als der erste: seine Füße baumeln in einem aromatisch duftenden Bach, der durch sein Büro fließt, während er Notizen in ein Büchlein mit Moleskineinband schreibt. Das Büchlein vergeht fast vor Lust, weit spreizt es seine Seiten, während der Vater seine klugen Gedanken notiert.” S. 63
Olga Tokarczuk hat sich einen uralten Mythos geschnappt, den von Anna In, In Anna, Inanna, und hat daraus ihre eigene Geschichte gemacht. Es geht um zwei Schwestern, eine dunkel, eine hell, eine fröhlich, eine traurig, Yin und Yang. Es geht um Götter und Göttinnen und ihre Arroganz. Es geht um Liebe und Opfer, Opferbereitschaft und Heldenmut. Es geht um oben und unten, um Leben und Tod.
Aber eigentlich ist es ziemlich egal, worum es geht, denn ich habe beim Lesen die meiste Zeit damit verbracht, die tolle Sprache von Olga Tokarczuk zu bewundern. Schon das Vorwort fand ich großartig, in dem sie auf den alten Mythos und seine verschiedenen Varianten eingeht und darüber nachdenkt, warum wir heutzutage eigentlich so wenige weibliche Göttinnen haben:
“Zurzeit aber wirkt die weibliche Gottheit nur vom Untergrund aus, an den Rändern der offiziellen Kulte, abgedrängt ins Nebelhafte, in die verschwommenen Sphären des Unbewussten – oder aber sie erscheint fragmentarisch, zurechtgestutzt auf das von der irdischen politischen Ideologie zugelassene Maß. Verstümmelt, geschwächt, auf die Rolle der Fürsprecherin oder Sekretärin eines Gottes reduziert, ja, in vielen Religionen sogar jeglicher sakralen Rolle beraubt, gleicht sie eher einem Phantom denn einer Göttin.” S. 22
Im Roman selbst verknüpft die Autorin dann den alten Mythos mit Fantasieelementen, aber auch technischen Entwicklungen, was wunderbar zusammenpasst. Und vor allem entwirft sie immer wieder wunderbare Bilder. Auch die Übersetzung von Lisa Palmes ist hervorragend.
"Soll ich sie zur Umkehr bewegen? Der Gedanke kehrt hartnäckig wieder, er poltert mir im Kopf herum und verursacht blaue Flecken im Gehirn." S. 44
“Wie eine Feuerkugel ist sie, die, während sie zum Wasser rollt, um die Flammen zu löschen, alles ringsumher in Brand setzt: wie eine Infizierte, die Trost in den Armen Fremder sucht und dabei das Virus an sie weiterreicht; wie ein gehetztes Tier, das sich, von Panik erfüllt, in den Bau flüchtet und so die eigenen Jungen ans Messer liefert.”
Kurz gesagt: Lesen! 5 von 5 Sternen.