Cover des Buches Der Meteorologe (ISBN: 9783954380497)
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Rezension zu Der Meteorologe von Olivier Rolin

Nicht Fisch, nicht Fleisch. Platter kann man über den Großen Terror kaum erzählen.

von Schmiesen vor 6 Jahren

Kurzmeinung: Weder Roman, noch Biografie, noch eine Mischung. Lustlosigkeit und minderwertige Recherche gepaart mit langweiligem Stil.

Rezension

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Schmiesenvor 6 Jahren
"Wer diese Abgründe nie kennengelernt hat, kann seine Fantasie nicht auf Reisen schicken."

Durch einen Zufallsfund wird Olivier Rolin auf Alexej Wangenheim aufmerksam, einen russischen Meteorologen, der zur Zeit des großen Terrors inhaftiert und exekutiert wurde. Die Bilder und Rätsel, die er damals seiner kleinen Tochter geschickt hat, dienen Rolin als Aufhänger, die Geschichte dieses Mannes zu erzählen.

Was dabei allerdings herauskommt, ist enttäuschend. Versprochen wird eine Romanbiographie, heraus kommt weder das eine noch das andere, noch eine Mischung davon. Man liest sich durch stakkatohaft dahingeschriebene Zeilen voller Namen, die nicht im Gedächtnis bleiben, voller Ereignisse, die sich ständig wiederholen. Auf die Zeichnungen, die im Buch zu finden sind, wird kaum eingegangen, der eigentliche Aufhänger "Familie" findet kaum Erwähnung. Hier mal meine Zusammenfassung der einzelnen Abschnitt (aus Sicht des Autors):

Abschnitt I : Och nö, Wangenheim hat eine Vorgeschichte. Mit der möchte ich mich eigentlich gar nicht befassen, aber das muss man wohl oder übel tun bei so einer "Biographie". Besser schnell runterschmieren, damit es spannend werden kann.

Abschnitt II : Puh, geschafft. Jetzt geht's ab in's Lager. Am besten, ich mache völlig unkenntlich, ob die Aussagen nun von Wangenheim oder von mir stammen. Ab und an klatsche ich ein "...schrieb er" in den Text, damit klar ist, dass ich seine Briefe brav gelesen habe. Literarische Aufarbeitung halte ich für Schwachsinn - das könnte für den Leser ja spannend werden!

Abschnitt III : Jetzt klären wir das Verbrechen doch mal auf. Am besten zackzack, denn schließlich muss dieses Buch doch auch mal ein Ende finden. So, hier habt ihr eure Schuldigen.

Abschnitt VI: Melancholisches Rumgesülze hat noch keiner RomanBiographie geschadet. Am besten baue ich noch ganz viele Informationen darüber ein, wo ich in Russland schon überall gelebt habe und wie aufregend ich das Land finde. Dann noch ein paar allgemeine Schwülstigkeiten über die Würde des Menschen, ein paar literarische Anspielungen und pseudo-philosophisches Geschwafel - tada, ein Meisterwerk!

So oder so ähnlich liest sich "Der Meteorologe": Ein Machwerk großer Lustlosigkeit, schlechter Recherche, mit einem grauenvollen Schreibstil und rührseliger Geschichte. Platter und langweiliger kann man über den Großen Terror kaum erzählen.

In schriftstellerischer Hinsicht leistet sich Rolin einige grobe Schnitzer. Beispiele gefällig?
1. Ständig spekuliert er über Szenarien und Personen, wie sie wohl waren, wie es sich wohl zugetragen hat. Er beschreibt eine Szene und widerlegt sie dann in Klammern - denn er weiß ja nicht, wie es sich tatsächlich zugetragen hat. Nun gut, dann hätte er sich für die Romanform entscheiden müssen, dann hätte er die Freiheit gehabt, die Szenen seinem Ermessen nach zu gestalten. So bleibt man als Leser immer in der Ungewissheit: Hat er sich das ausgedacht? Ist das relevant? Nur Geschwafel? Wozu das Ganze, wenn es sofort negiert wird? Und außerdem beschreibt er seine Szenen in elendig langen Hauptsatzreihen, die kaum Bilder entstehen lassen, sondern nur eines - Langeweile. Er zählt die Schrecken auf, anstatt davon zu erzählen.
2. Er bewertet ständig seine Figuren. Heftigster Fauxpas: Er schreibt über die "fiese Fresse" eines Lagerhenkers. Wow. Ja, wir wissen, diese Menschen haben Schreckliches getan. Aber in einer angeblich recherchierten (Roman-)Biographie möchte ich so etwas doch nicht lesen!
3. Auch der Sexismus ist nicht weit: "Keine Frage, es ist ungerecht, dass die Schönheit einer Erschossenen plötzlich die Rührung verstärkt, mit der man dem Blick der Ermordeten begegnet, dennoch muss man zugeben, dass es so ist." Urgh. Bitte was? Dir gefällt die im Großen Terror ermordetet Frau, und das macht sie bemitleidenswerter als die anderen? Dass Rolin noch nicht einmal den Anstand besaß, solche Gedanken wenigstens aus dem endgültigen Buch herauszuhalten, macht schon wütend.
4. Dubiose religiöse Vergleiche liefert er ebenso wie merkwürdige Rachefantasien über die "bescheidene Genugtuung", dass die meisten der Funktionäre, die für den Großen Terror verantwortlich waren, selbst erschossen worden sind. Die Hinrichtungsszenarien vergleicht er damit, "wie die römischen Soldaten Christus verhöhnten". Warum solche Vergleiche? Warum so eine emotionale Nähe zu seinen Figuren? Das ist schlichtweg unprofessionell, denn keiner will die Meinung eines unmotivierten, unsensiblen Laien hören.

Immerhin hat er sich ein behandelnswertes Thema ausgesucht: Der einfache, unschuldige Mann in den Fängen des Regimes. Die schlechte Recherche gibt er in der Danksagung sogar zu: "Ich habe also die Historiker, auf die ich mich beziehe, nicht systematisch zitiert." Ja, aber warum denn nicht? Das, und nichts anderes, ist deine Aufgabe als Biograph, dachte ich bei mir. Wozu also ein solches Buch schreiben, wenn es Rolin weder die Recherchearbeit noch das angemessene Verfassen wert war? Aus einem solchen Stoff hätte viel gemacht werden können, doch Rolin hat dabei auf ganzer Linie versagt.
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