Der vielfach preisgekrönte Schriftsteller und Professor Oswald Egger unternimmt in diesem Band einen Selbstversuch: Während eines ganzen Jahres nimmt er sich täglich eine Stunde Zeit, um einen Vierzeiler zu schreiben. Die so entstandenen Gedichte werden in einer mehrspaltigen Tabelle angeordnet und über eine ganze Buchseite verteilt. Dieses an die surrealistische écriture automatique erinnernde Verfahren stellt unsere Lesegewohnheiten infrage - man kann die Gedichte in beliebiger Reihenfolge lesen und auch Verknüpfungen zwischen ihren Worten herstellen. Zugleich werden die Grenzen zwischen Lyrik und Prosa aufgesprengt; die Vierzeiler müssen nicht zwingend linear von links nach rechts gelesen werden, vielmehr erlaubt ihre tabellenartige Anordnung dem Leserblick über die ganze Buchseite zu schweifen.
Ohne theoretische Hinführung ist dieses Werk nicht verständlich. Denn zwischendurch geht es philosophisch zur Sache: Es geht um die Frage nach der Zeit. Die Zeittheorie des Augustinus wird aufgegriffen, Bezüge zur Kunstgeschichte sowie zur Literatur der Romantik sind da und wollen erkannt werden. Kein Werk also, das man einfach so dahin liest.
Besonders anspruchsvoll ist das Spiel mit metrischen Formen. Über weite Strecken ist dieses Buch - das manche als Prosagedicht bezeichnet haben - nicht über die Inhaltsebene zugänglich, sondern einzig über die Dimension der Form, d.h. über Rhythmus, Metrum, Reim und rhetorische Figuren. Man sollte also nicht nur philosophisch, sondern auch literaturtheoretisch, rhetorisch und literaturgeschichtlich ziemlich sattelfest sein, um da noch mitzukommen.
Ein Buch, das wesentliche Kategorien unserer Kultur infrage stellt (Was ist Lyrik? Was Prosa? Was ist Zeit? Wie lese ich?) und neu denkt. 5 Sterne von mir.