PÁL ZÁVADA: DAS VERMÄCHTNIS DES FOTOGRAFEN
Roman aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner
und mit einem Nachwort von György Dalos,
Luchterhand Literaturverlag, München 2010
(in der Verlagsgruppe Random House GmbH)
Roman der gleitend wechselnden Wirs
Wenigstens die originalsprachlich-ungarischen Erstleser... dieses Romans werden die ersten 50 Jahre der letzten 7 Jahrzehnte ihrer eigenen ungarischen Geschichte einigermaßen gut kennen. (Davon gehe ich prinzipiell einmal aus, obwohl mich durchaus Zweifel beschleichen, wenn ich an die jüngsten, über Ungarn hinaus erschreckenden Wahlerfolge rechter, ja äußerst rechter Parteien und Gruppierungen in Ungarn denke.) Doch auch für jene, die sich reflektiert – ob nun als Nachfahren oder als Zeitgenossen - in der ungarisch-europäischen Geschichte von 1942 bis 1992 auskennen, bietet der Roman in seiner sinnvollen Beschränkung auf eine vielfältig verflochtene Figurenkonstellation von allenfalls drei Generationen ganz zentral und immer wieder neu: Überraschungen. Vor allem in und wegen seiner eigenwilligen Form, an der bis zuletzt festgehalten wird und die auch im Nachhinein sachlich überzeugt.
Liest sich der übrigens insgesamt sehr gut lesbare und durchweg interessante Roman noch im ersten Abschnitt eher simpel - und doch trügerisch! - als ein in der altvertrauten Tradition der Er-Erzählform geschriebener, so macht uns schon der 2. Erzählabschnitt stutzig. In ihm nämlich taucht plötzlich ein Wir-Erzähler auf, den wir fast reflexartig sofort einer ganz bestimmten festen, von uns aber allererst zu identifizierenden Wir-Gruppe zuordnen wollen. Wenn dies uns aus der Situation heraus ungefähr gelungen ist, scheint der Roman wie beruhigt wieder in die Er-Form wechseln zu dürfen, bis sich unversehens aus einer neuen Situation des Erzählfortgangs heraus ein neues Erzähler-Wir herauskristallisiert, nach dessen möglicher Identität wir uns nun von neuem zu fragen beginnen. Anders als etwa beim Chor der antiken Tragödie oder Komödie haben wir in diesem Roman nie den Eindruck einer festen gleichbleibenden und fortlaufend kommentierenden Größe, sondern den eines fortlaufenden Identitätswechsels einer Wir-Gruppe, die nur rein formal eine gleichbleibende Identität nahelegt.
Hier sind wir schon von der Form her ganz nah beim (eher indirekten) Thema. Wie sinnvoll kann es überhaupt sein, ob nun populistisch oder nationalistisch oder nationalistisch sozialistisch, von einer sich durchhaltenden oder willkürlich sich durchhalten sollenden ungarischen Identität zu reden oder auch nur reden zu wollen? Für wie ungarisch werden jeweils - innerhalb der zur Sprache kommenden 50 Jahre - slowakische und jüdische ungarische Minderheiten gehalten? Vom Gewebe erzählter Einzelschicksale wie vom Eindruck der von Situation zu Situation wechselnden Wir-Erzähler-Begleitung her kann sich jede(r) davon ein eigenes Bild machen. Das eigene Nachdenken und Sich-Zurechtfinden-Wollen bleibt uns als Leser... keineswegs erspart, es sei denn, wir würden uns vorschnell bei einer bestimmten Lesart beruhigen. Darin mag auch eine gewisse Gefahr des Buches liegen: Vorschnell könnte die (gelegentlich durchaus vorurteilsbelastete) Sichtweise einer ganz bestimmten Wir-Erzähler-Gruppe einfach übernommen oder mit der Auffassung des Autors selber gleichgesetzt werden.
Sprechend genug nimmt der Roman 1942 seinen Ausgang in einer vorwiegend von ungarischen Slowaken, vereinzelt auch von ungarischen Juden bewohnten ungarischen Dorfgegend. Auf einer Fotografie, die der jüdische Dorffotograf, der sich in der Begleitung eines mit ihm befreundeten, ebenfalls jüdischen Arztes befindet, genau an dem Tag, an dem eine sechs- bis siebenköpfige akademisch-städtische Dorf-Erforschungsgruppe den Markt des Dorfes besucht, gemacht hat, finden sich u. a. eben jene Personen versammelt, deren weiteres, von der Wegrichtung und ihrem Schicksal her meist deutlich von einander abweichendes Leben im vielfältig wechselnden Fortgang des Romans und im konzentrierten Abstand exemplarischer Jahrzehnte weitläufig geschildert wird. Das kurze kommentierende Nachwort des Schriftstellers György Dalos (S.473 – S. 475) fasst das alles recht gut und informativ zusammen.
Schon deswegen begnüge ich jetzt nur noch mit einigen wenigen Andeutungen.
Das Buch kann sinnvoll gelesen werden als zeitgeschichtlicher, politischer Roman, als plurales individualgeschichtliches ungarisches Geschichtsbuch, zentral der sozialistischen Zeit, mit kleinem Vor- und Nachspann; vor allem aber auch als ein Liebesroman besonderer Art, als der paradoxe Roman einer Liebe, die sich zugleich erfüllt und nicht erfüllt. Ein gewisses Vorbild dafür ist Flauberts Roman „Lehrjahre des Gefühls“. Merkwürdig genug, dass dieser Roman, der erzählerisch erst sehr spät etwas eindeutiger identifizierbar gemacht wird (S.466), ohne Titel- und Autorennennung schon als „Lieblingsroman“ des jungen Ádám Koren (S.57) fungiert, bevor er Viola, die schon damals mit A. Enying verheiratete Tochter Jenö Adlers, in die sich Ádám blitzartig verliebt, im Zug in einer Gruppe von vier ihm zunächst allesamt unbekannter Personen zum ersten Mal begegnet. Zu fragen ist wohl, was ihn, den damals noch nicht ganz Zwanzigjährigen, an genau diesem Roman so sehr angezogen hat? War es schon da die darin so empfindlich spürbare Resignation?
Stutzig macht mich übrigens auch der Passus auf Seite 57: „in die Seitentasche passte gerade noch sein Lieblingsroman, den wir ihm gegeben haben“. Das „Wir“ dieses Satzes ist nämlich auch hier das „Wir“ einer situativen Wir-Erzähl-Gruppe, real nicht zuzuordnen, wohl aber real fiktiv in Erscheinung tretend. Auf Seite 461 schließlich , nachdem wir uns als Leser... so lange (durchaus fruchtbare) eigene Gedanken über das Erzählprojekt dieses Romans machen konnten, gibt eine neuerliche Wir-Erzählgruppe wertvolle Hinweise auf ein durchgreifendes weiterführendes Verständnis. Mir kam dabei wie von selbst ein berühmter Satz Stendhals in den Sinn, in dem es heißt, dass der (realistische) Roman „ein Spiegel“ sei, nie verantwortlich für das, was sich in ihm spiegele. Von Anfang an hatte ich mich schon früher bei diesem Satz gefragt, wer diesen Spiegel denn trägt und bewegt und wer in ihn wie hineinschaut. Die sporadisch wechselnden Wir-Erzähler dieses ungarischen Gegenwartsromans nun erweitern meine alte Fragestellung um eine weitere Dimension. Halten sie doch – mindestens ihrem punktuellen Selbstverständnis nach - immerzu fest, was jeweils gesehen, gehört und vorgestellt wird; und dieses Tun könnte ihnen zufolge tendenziell fortgesetzt werden „bis zum Jüngsten Tag“. -
In mehrfacher Hinsicht eine Schlüsselszene dieses Romans ist für mich die einer szenischen Dreierbegegnung: Viola, eine Ungarin mit einem jüdischen Vater (Jenö Adler), besucht in „Pressburg“ - (steht übrigens im ungarischen Originaltext eine Entsprechung für dieses deutsche Wort und nicht eine für das slowakische Bratislava?) - eine ältere slowakische Jüdin, mit der sie sich auf deutsch unterhält, weil die eine kein Ungarisch, die andere kein Slowakisch verstehen, geschweige denn sprechen kann. Der zu diesen beiden - um Viola an Ort und Stelle abzuholen - hinzustoßende Ádám versteht seinerseits kein Deutsch, kann sich nun aber mit Janá Gartnerova in einem von ihr so empfundenen altertümlichen Slowakisch verständigen, das er in seiner Kindheit neben dem hautsprachlichen Ungarischen infolge der teilweise slowakischen Wurzeln seiner Eltern seinerzeit gezielt zusätzlich gelernt hat.