Loris ist dreitausendzweihundertundsiebenundneunzig Tage alt. Ganz genau. Und wenn ihm jemand sagt „Wir sehen uns so gegen zwei Uhr“, kann er damit nichts anfangen. Genauso wenig wie mit dem Ausdruck „Die sieht ja aus wie drei Tage Regenwetter“ – scheint denn draußen nicht die Sonne? Loris lebt meist in seiner eigenen Welt: Er sammelt Uhren und sein Tagesablauf duldet keine Abweichungen, selbst das Essen muss immer gleich sein, sonst wird Loris kribbelig.
Vom Aussehen her unterscheidet Loris nichts von seinen Altersgenossen, aber dennoch ist er spürbar anders … einerseits.
Andererseits: Loris besucht die Regelschule. Manchmal ist der Unterricht für ihn anstrengend und schwer durchschaubar; vor allem bei Gruppenarbeiten oder wenn es laut und wuselig wird. Aber er hat einen Freund mit dem er Angeln geht, und der keine unnötigen Worte macht.
Einerseits: Texte schreiben ist nicht Loris‘ Stärke – er versteht oft die Aufgabenstellung nicht. Andererseits bringt er im Matheunterricht gute Leistungen, weil er da in Ruhe Aufgaben lösen kann, die ein eindeutiges Ergebnis haben.
Die Autorinnen stellen uns in diesem Buch ein Kind vor, das zwar typische Einschränkungen des Autismus-Spektrums hat, aber in keiner Weise dem gängigen Klischee des ‚sozial verwahrlosten Asperger-Genies‘ entspricht. Umfasst doch der heutige Begriff des ‚Autismus-Spektrums‘ auch viele Eigenschaften, die vor einigen Jahren noch nicht eindeutig zuzuordnen waren, wird begreiflich, dass sich immer häufiger Kinder wie Loris auch in Regelklassen finden werden. Und dann besteht Gesprächsbedarf. Hier setzt dieses Buch an. Man merkt, dass die Autorinnen ein fundiertes Fachwissen zum Thema Autismus haben und auch praktisch mit betroffenen Familien arbeiten. So fließen viele konkrete Anregungen in die Handlung des Buches ein, die durch das gut gemachte Begleitmaterial (Downloadlink unten) noch ergänzt werden. Ich habe dieses Buch mit einem 16-Jährigen, der an Autismus leidet (ähnlich wie Loris) besprochen und er war sehr angetan davon, wie präzise die typischen Probleme eingefangen sind, die seinen Alltag prägen. Auch dieser Jugendliche hat deutliche Einschränkungen – einerseits … aber da ist auch das andererseits, das man nicht übersehen darf.
In der Geschichte wird deutlich, dass Loris in einzelnen Feldern Unterstützung braucht: er ist nicht flexibel und kann seine Arbeitsabläufe gut planen, es fällt ihm schwer, die Mimik anderer Menschen zu ‚lesen‘ und anderes. Andererseits ist er anderen auch überlegen: er hat zum Beispiel eine überragende Beobachtungsgabe. Wie diese Eigenschaft ihm ganz entscheidend weiterhilft, soll hier nicht verraten werden, aber spätestens an dieser Stelle stellt sich die Frage: was ist normal? Und haben wir nicht alle Stärken und Schwächen?
In diesem Zusammenhang auch spannend: wie aus Albert eine Albertine wird (aber jetzt habe ich schon fast zu viel gesagt …)
Am Ende der Geschichte haben alle etwas dazugelernt – auch Loris, den es zum Schluss gar nicht so sehr stört, dass ‚dieser Tag nicht genau gleich ist, wie jeder andere.‘
Lediglich einen Kritikpunkt habe ich – den ich jedoch diesem hervorragend gemachtem Buch nicht anlasten will, sondern der in die öffentliche Diskussion des Themas schulische Integration gehört: mit keinem Wort wird erwähnt, dass es nicht ausreicht, wenn ein Kind wie Loris lediglich durch Eltern und einen gut motivierten Lehrer gefördert wird. Da braucht es mehr, viel mehr! Sonderpädagogen, angepasste Lehrpläne und Räumlichkeiten – also kurz gesagt: Geld – denn eine gute schulische Integration bekommt man nicht gratis. Umsonst ist sie aber auch nicht!
Downloadmaterial zum Buch
http://www.psychiatrie-verlag.de/fileadmin/storage/files/pv_book/153_Downloadmaterial.pdf