Dieser Roman spielt zwischen 1908 (Rue Gazan, Paris) und 2025 (Finnischer Meerbusen) und ist unter anderen auch John Berger (den ich zu den unabhängigsten und aufmerksamsten Kommentatoren der Fotografie zähle) gewidmet, weswegen ich die Lektüre denn auch ausgesprochen positiv angehe. Gleich zu Beginn stosse ich auf Sätze, die mein Weltverständnis besser ausdrücken als fast alles, was mir gegenwärtig präsent ist. "Er hielt das Geheimnis, das allem innewohnte, nicht für formlos oder vage oder für eine Unstimmigkeit, sondern für das, was in uns Raum liess für etwas klar Umrissenes. Er war nicht der Meinung, dass man diesen Raum mit Religion oder Wissenschaft ausfüllen musste, denn er sollte ganz und gar unberührt bleiben; wie Stille, Sprachlosigkeit oder die Dauer."
Robert ist mit einem lahmen Bein aus dem Krieg zurückgekehrt. Helena überredet ihn, einen Assistenten für das Fotostudio einzustellen, jemand, der sich mit den Chemikalien und Verfahren auskannte, der wusste, wie man Lichter und Requisiten wirkungsvoll einsetzte. Robert Stanley hat zwar keine Erfahrung, doch er lernt schnell.
Das Fotostudio erfreut sich reger Kundschaft, vor allem Familienporträts sind gefragt, man zeigt sich im besten Licht, will einen Beweis dafür, dass man den Krieg überlebt hat. Nicht die Wirklichkeit soll abgebildet werden, sondern wie man sich entschieden hat, diese Wirklichkeit zu sehen.
Eines Tages fotografiert John einen jungen Mann. Er weiss, dass die Kamera oft Dinge sieht, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben, doch dass da plötzlich eine ihm unbekannte Frau auf den Abzügen zu sehen war, widersetzt sich jeder Erklärung. Der junge Mann sagt, es handle sich um seine verstorbene Mutter. Sind die Toten vielleicht unter uns?
"Die Toten zeigen uns auf viele Arten, dass sie bei uns sind. Manchmal bleiben sie absichtlich fern, um sich durch ihre Wiederkehr bemerkbar zu machen. Manchmal bleiben sie an unserer Seite und gehen dann, um zu zeigen, dass sie bei uns waren. Manchmal führen sie einen Hirsch zum Friedhof, setzen einen Rotkardinal auf den Zaun, bringen ein Lied im Radio, sobald wir es anmachen. Manchmal bringen sie Schnee."
Zeitpfade besticht durch Wahrnehmungen, die sich uns dann erschliessen, wenn wir unsere vorgefertigten Gedanken, die das, was wir sehen, beiseitelassen und uns einfach dem hingeben, was ist. "Wie können wir die Existenz all dessen, was ist, infrage stellen? Wie können wir Unsichtbarkeit mit Inexistenz ins eins setzen?" Uns ist die Möglichkeit gegeben, zu lernen, uns dem Zauber des Unbegreiflichen hinzugeben.
1951, in London, entdeckt Helena ihr Maltalent. Und sie nimmt wahr, dass vieles, das sie weiss, nicht in Worten ausgedrückt werden muss. Zudem lernt sie, das Ungewohnte zu schätzen. "... sie wusste, dass gerade etwas passiert war, ohne zu wissen, was es zu bedeuten hatte ...". .
Dieser Roman wird nicht chronologisch erzählt, auch weil das, von dem hier erzählt wird, sich nicht in den uns vertrauten Kategorien von Zeit, Sprache und Raum fassen lässt. "Maras Erfahrung nach war das Übernatürliche nichts anderes als die Präsenz des Guten, die Liebe, die sich vom Leichnam freibrennt; es ist immer die Liebe, die dem Wüten der Menschheit zu entkommen versucht."
Zeitpfade setzt sich auf vielfältige und sehr behutsame Weise mit der Erinnerung auseinander, weshalb denn auch die Fotografie eine zentrale Rolle spielt. "Man benötigt keine Kamera, um zu sehen oder sich zu erinnern", sagte er, "aber man braucht sie, um das zu belegen, was vergangen ist – damit andere sich erinnern."
Der Fotografie eignet etwas Geheimnisvolles. Fotos können ganz Unterschiedliches auslösen, doch nichts davon ist wirklich fassbar, vor allem nicht die Sehnsucht, die einige Fotografien hervorrufen können. "Es geht ums Besitzen, dachte sie, um die Anerkennung dessen, was uns niemals gehören kann, eigentlich steht uns diese Sehnsucht nicht zu, und trotzdem erzeugt das Sehen eine Erinnerung oder gewährt eine Erinnerung oder bestätigt eine Erinnerung (...) Vielleicht stirbt die Erinnerung, wenn wir sterben. Vielleicht verdunstet sie und hinterlässt ihr Salz. Wenn jemand stirbt, verändert sich sogar die Luft."
Nichts entzieht sich uns mehr als die Erinnerung, nichts ist unerklärlicher und mysteriöser. Selten wurde das poetischer gezeigt als in Zeitpfade.