Patrick Modiano

 3,7 Sterne bei 558 Bewertungen
Autor von Im Café der verlorenen Jugend, Ein so junger Hund und weiteren Büchern.

Lebenslauf

Literaturnobelpreisträger- von der Pflicht, sich zu erinnern: Patrick Modiano gehört zu den erfolgreichsten französischen Autoren der Gegenwart und wird aufgrund seiner sprachlichen Ausdruckskraft gerne als der Marcel Proust des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Er wurde 1945 im Pariser Vorort Boulogne-Billancourt geboren und verbrachte seine Jugend in Internaten. Schicksalhaft wurde 1960 die Begegnung mit dem Schriftsteller Raymond Queneau, der ihm eigentlich Geometrie beibringen sollte und ihn stattdessen in die Welt der Literatur einführte. 1968 veröffentliche Patrick Modiano seinen ersten Roman „La Place d´Étoile“ (dt.: „La Place d´Étoile“, 2010), für den er sogleich mit Preisen ausgezeichnet wurde. In Deutschland wurde er jedoch erst 1985 bekannt, als sein Buch „Une Jeunesse“ (1981) in deutscher Übersetzung („Eine Jugend“) erschien. In vielen seiner Werke befasst sich Patrick Modiano mit der jüdischen Identität, dem Versagen der Vichy-Regierung während der deutschen Besatzungszeit und der menschlichen Fehlbarkeit im Allgemeinen. Zu seinen größten Erfolgen gehören „Les Boulevards de Ceinture“ (großer Romanpreis der Académie française 1972; dt.: „Außenbezirke“, 1981) und „Rue des Boutiques Obscures“ (Prix Goncourt 1978; dt.: „Die Gasse der dunklen Läden“, 1979). 2014 erhielt er für sein Lebenswerk, das er noch immer erweitert, den Nobelpreis für Literatur: So erschien sein erstes Theaterstück, „Unsere Anfänge im Leben“, im Jahr 2018.

Alle BĂĽcher von Patrick Modiano

Cover des Buches Im Café der verlorenen Jugend (ISBN: 9783423142748)

Im Café der verlorenen Jugend

 (146)
Erschienen am 01.12.2013
Cover des Buches Ein so junger Hund (ISBN: 9783351036096)

Ein so junger Hund

 (37)
Erschienen am 29.10.2014
Cover des Buches Der Horizont (ISBN: 9783423144056)

Der Horizont

 (34)
Erschienen am 01.05.2015
Cover des Buches Gräser der Nacht (ISBN: 9783423144940)

Gräser der Nacht

 (32)
Erschienen am 22.04.2016
Cover des Buches Die Kleine Bijou (ISBN: 9783446248762)

Die Kleine Bijou

 (27)
Erschienen am 03.11.2014
Cover des Buches Unsichtbare Tinte (ISBN: 9783446269187)

Unsichtbare Tinte

 (22)
Erschienen am 15.02.2021
Cover des Buches Dora Bruder (ISBN: 9783423253680)

Dora Bruder

 (22)
Erschienen am 18.12.2015
Cover des Buches Damit du dich im Viertel nicht verirrst (ISBN: 9783423145404)

Damit du dich im Viertel nicht verirrst

 (21)
Erschienen am 09.12.2016

Neue Rezensionen zu Patrick Modiano

Cover des Buches Damit du dich im Viertel nicht verirrst (ISBN: 9783446249080)
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Rezension zu "Damit du dich im Viertel nicht verirrst" von Patrick Modiano

Auf den Spuren vergessener Kindheitserinnerungen
bookstoriesvor 2 Monaten

Ich will nach der letzten Lektüre "Gräser der Nacht" noch ein Weilchen in Patrick Modianos Welt verweilen und habe mir deshalb im Anschluss gleich sein wohl autobiografischstes Werk zu Gemüte geführt. Wieder bewegen wir uns in einer Welt der Schatten längst vergangener Zeiten, wieder sind wir in Paris, wieder liegt der Stadtplan von Paris neben meinem Lesesessel, wieder wechseln Personen ihre Namen zwecks neuer Identitäten, erneut verschachtelt Modiano drei verschiedene Zeitebenen ineinander, wieder heisst der Hauptprotagonist Jean (diesmal in der dritten Person erzählend), und wieder geht es um eine verlorene Kindheit in den Fünfzigerjahren mit Spätfolgen, an die sich der Protagonist über fünfzig Jahre später zu erinnern versucht - oder vielmehr, die er aus seiner vielleicht beabsichtigten Amnesie unfreiwillig hervorholen muss.


Der Autor schickt seiner Geschichte als Vorwort ein Zitat des französischen Schriftstellers Stendhal voraus, der in den Anfängen des 19. Jahrhunderts gewirkt hatte: "Ich kann die Wirklichkeit des Geschehenen nicht darstellen, ich kann nur seinen Schatten zeigen." Diese Worte sind sehr tiefgrĂĽndig und bezeichnend fĂĽr alle Werke Modianos. Wenn wir diesen Satz interpretieren und in seiner Tiefe erfassen, verstehen wir Patrick Modianos Texte, die auf der einen Seite sehr leichtfĂĽssig geschrieben sind, auf der anderen Seite aber viel Schmerz beinhalten und beschreiben, den Schmerz eines Suchenden nach seiner Identität. Das Vergessen, ob nun durch bewusste Verdrängung oder den Lauf der Zeit hervorgerufen, und die Schatten der Vergangenheit, die wie kleine Flämmchen in die Gegenwart zĂĽngeln und die Persönlichkeit einer Person prägen, ist Modianos zentrales Schreibthema. Auf der RĂĽckseite des Buches steht geschrieben, dass Modiano sich hier einer Episode seiner Kindheit nähert, die seine ganze literarische Vorstellungswelt geprägt hat. 


Wie schon in "Gräser der Nacht" bewegen wir uns erneut in drei verschiedenen Zeitdimensionen. Da ist der kleine sechsjährige Jean, dem sich eine junge Frau namens Annie Astrand angenommen hat, weil die Eltern ihn aus unerwähnten Gründen abgeschoben haben, da ist derselbe einundzwanzigjährige Jean, der gerade sein erstes Buch schreibt und so Begebenheiten seiner Kindheit aufarbeitet, und da ist der in der Gegenwart lebende, über sechzig Jahre alte Jean, der sich aufgrund einer Begegnung mit zwei unbekannten Personen unwillentlich an diese längst vergessenen oder zur Seite geschobenen Lebensepisoden zurückerinnert. Und fleissig springt der Autor hin- und her, erinnert sich selbst in der Erinnerung, und stellt auch noch in den Raum, ob gewisse Bilder womöglich nur Traumbilder sind und nicht der Realität entsprechen, so dass der Hauptprotagonist sich in seinen Erinnerungen kaum zurechtfindet und der Leser bestrebt ist, immer die Orientierung zu behalten. Das hört sich verzwickt und verwirrend an, ist es aber nicht, sofern man bei der Sache bleibt. Das muss man Modiano lassen.


Ein paar Formulierungen liessen mich an "Gräser der Nacht" denken, wie zum Beispiel das Bild mit den undeutlichen Morsezeichen, die durch die Zeit dringen und kaum mehr entziffert werden können, oder das Licht, das jemand hinter einem Fenster brennen lässt und auf An- bzw. Abwesenheit schliessen lassen. Sie scheinen zu Modianos Bildsprache zu gehören, um das Verwobensein von Vergangenheit und Gegenwart zu veranschaulichen. Ich bin gespannt auf weitere Romane von ihm, deren weit über zwanzig es geben soll. Ich denke, er schreibt keine neuen Geschichten, ihn hält die eine Geschichte - seine eigene - gefesselt, die ihn zum Schreiben bewegt und zur Meisterschaft gebracht hat.


"Damit du dich im Viertel nicht verirrst" beginnt mit dem kurzen Satz "Fast nichts." (...) Wie die Wirkung eines Insektenstichs, der zunächst kaum spürbar ist und dann einen immer anschwellenderen Schmerz verursacht, dringen Worte und Namen aus der Vergangenheit in das Bewusstsein von Jean Daragane, einen alternden Schriftsteller, der zurückgezogen in einer Pariser Wohnung lebt und die Begegnung mit Menschen meidet. Unfreiwillig wird er mit seiner eigenen Kindheit konfrontiert. Ein Anruf eines Unbekannten - Gilles Ottolini - bewegt ihn zu einem Treffen in einem Café, dieser habe sein Adressbüchlein gefunden und möchte es ihm zurückgeben. Obwohl Jean die Telefonnummern darin nicht mehr benötigt, da die Personen entweder nicht mehr leben oder für ihn nicht mehr von Bedeutung sind, trifft er sich mit dem Unbekannten, der in Begleitung einer jungen Frau namens Chantal Grippay tatsächlich mit dem Büchlein erscheint - und mit Fragen.


Ottolini möchte Informationen über einen gewissen Guy Torstel, der in Jeans Adressbuch steht. Er schreibe einen Artikel über einen Kriminalfall, in den Akten tauche dieser Name auf, und er hoffe, durch Jean mehr über diese Person zu erfahren. An Guy Torstel kann Jean sich anfänglich nicht erinnern. Doch Annie Astrands Namen, der ebenfalls in diesen Akten steht, die er von Chantal Grippay hinter dem Rücken von Ottolini zwecks Lektüre erhält, kreist er mit roter Farbe ein. Annie Astrand, eine sanfte junge Frau, hat ihn einst als siebenjähriges Kind in ihr Haus in Saint-Leu-La-Forêt aufgenommen, wo Jean ein Jahr seiner Kindheit verbringt, bevor Annie mit ihm in eine Wohnung im Pariser Montmartre-Viertel umzieht, um von dort später in einer Nacht- und Nebelaktion mit dem Zug Richtung Italien zu flüchten.


Durch diese Akte, die Jean zu lesen beginnt, fallen ihm immer mehr Begebenheiten aus seiner Vergangenheit ein, und nie ist er sich sicher, ob das, woran er sich zu erinnern glaubt, sich auch tatsächlich so zugetragen hat. In dieser Akte findet Jean eine Vergrösserung eines Automatenbildes eines damals nicht identifizierten Kindes, und auf diesem Bild erkennt er sich selbst wieder. Diese Begebenheit, dieser Gang zu einem Fotoautomaten, erwähnt Jean in seinem ersten Roman Das Schwarz des Sommers, den der unbekannte Gilles Ottolini ebenfalls gelesen haben will, und den Jean fünfzehn Jahre nach seinem Zusammensein mit Annie Astrand, also mit einundzwanzig, zu schreiben beginnt und auch fertigstellt. Ein Kriminalroman, in dem er an einer einzigen Stelle im Zusammenhang mit einem Bücherladen auch den Namen Guy Torstel nennt.


Jene Zeit in Paris fünfzehn Jahre nach den Begebenheiten mit Annie Astrand führt Jean unter anderem wieder zum Haus in Saint-Leu-La-Forêt zurück, wo er bei einem gewissen Doktor Voustraat, dem Nachbarn, Informationen zu erhalten hofft. Jean gelingt sogar ein kurzes Wiedersehen mit Annie Astrand. Sie wirkt ängstlich und unehrlich. Ob er die Nacht bei ihr bleibt, wie sie das wünscht, wird nicht ausformuliert. Wir erhalten einige Puzzleteile, ein ganzes Bild fügt sich jedoch nicht zusammen. So erfahren wir unter anderem, dass Annie Astrand im Gefängnis gesessen hat, und dass eine Person namens Colette Laurent, die mit Annie verkehrte, umgebracht wurde. Man kann vermuten, dass dies der Grund für Annies spätere Flucht gewesen sein könnte. Auch andere Namen zwielichtiger Personen werden genannt, mit denen Annie verkehrte, so zum Beispiel Roger Vincent, ein Name, der auch in anderen Romanen Modianos vorkommen soll. Die beiden Personen Gilles Ottolini und Chantal Grippay, die Jean dazu bewegen, sich mit seiner Vergangenheit zu befassen, tauchen nach ihrem Auftritt zu Beginn der Geschichte nicht wieder auf, was den Leser mit Fragen zurücklässt.


Überhaupt können wir gewisse Geschehnisse nur erahnen, wie zum Beispiel, dass das Wirken Annie Astrands in die Nachtlokale des südlichen Teils von Montmartre hineinspielt, oder was sich in dem Haus in Saint-Leu-La-Forêt zugetragen haben könnte, oder dass dieser dubiose Gilles Ottolini sein Geld durch Zuhälterei und Pferdewetten verdient und Jean mit dieser Kriminalakte nur erpressen will. Alles bleibt im Zwielicht, erhält so mehr Gewicht, als würden Dinge ausgesprochen werden. Am Ende stehen mehr offene Fragen im Raum als Antworten. Aber das spielt keine Rolle, denn wie im Vorwort schon erwähnt, kann der Autor nicht die Wirklichkeit des Geschehenen darstellen, er kann nur seine Schatten zeigen. Am Ende, da die Erinnerungen für den kleinen Jean immer schmerzhafter zutage treten, wechselt Modiano in Präsenz-Erzählform, was dem Leser erlaubt, tief in die Seele des Protagonisten zu blicken.


"Damit du dich im Viertel nicht verirrst" ist eine berührende Geschichte. "Damit du dich im Viertel nicht verirrst" steht in grosser Schrift, zusammen mit der Wohnadresse Annie Astrands, auf einem gefaltenen Zettel, den der kleine Jean bei sich trägt, wenn er tagsüber im Montmartre-Viertel am Place Blanche allein durch die Strassen zieht, weil Annie Astrand abwesend ist und einer Tätigkeit nachgeht, die beim Leser und auch beim Hauptprotagonisten nur vage Vermutungen auslöst.


Review mit Zitaten und Bildern auf https://www.bookstories.ch/gelesenes1/damit-du-dich-im-viertel-nicht-verirrst 

Cover des Buches Gräser der Nacht (ISBN: 9783446247215)
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Rezension zu "Gräser der Nacht" von Patrick Modiano

Ein Puzzlespiel von Erinnerungen, die kein Ganzes ergeben
bookstoriesvor 3 Monaten

Wie komme ich zu einem Roman eines französischen Schriftstellers, wo mich Frankreich mit seiner zwar wohlklingenden, mir aber stets fremd gebliebenen Sprache und Mentalität nicht sonderlich anzieht? Vor vielen Jahren bin ich auf Patrick Modianos Roman "Die kleine Bijou" gestossen, ein schmales Buch, das mich von Erzählstil und Atmosphäre sehr angesprochen hat, und das ich mir damals aufgrund einer Buchbesprechung in einer Literatursendung kaufte. Seither ist mir Patrick Modiano ein Begriff. Vor einiger Zeit fand ich dann in einem Gebrauchtbuchladen ein neuwertiges Exemplar von "Gräser der Nacht" und auch von "Damit du dich im Viertel nicht verirrst". Patrick Modiano hat zahlreiche Romane verfasst und erhielt 2014 den Nobelpreis für Literatur, was ich zum Zeitpunkt der Anschaffung dieser Bücher aber noch nicht wusste, sondern erst auf der Umschlagrückseite meiner Ausgabe des Carl Hanser Verlags lesen konnte.


Der Nobelpreis wurde Modiano für "die Kunst des Erinnerns, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt während der (deutschen) Besetzung sichtbar gemacht hat" verliehen. So ist es auf Wikipedia nachzulesen. Immer drehen sich Modianos Geschichten um die Aufarbeitung der Vergangenheit in der Gegenwart, um das Vermögen oder Unvermögen, sich zu erinnern, und um das Vergessen. Nicht selten verschmelzen bei ihm diese beiden Zeitdimensionen. "Ich konnte nicht mehr richtig zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden", wie es an einer Stelle in "Gräser der Nacht" heisst. Und immer ist Paris Schauplatz, wird dem Leser diese Stadt in eindrücklicher, melancholischer, oft trister Atmosphäre nähergebracht, natürlich aus einer Zeit, die irgendwo in der Erinnerung des Erzählers verborgen liegt.


Man muss bewusst aufnahmefähig bleiben, um Modianos mentalen Suchpfaden folgen zu können. Man muss sich einlassen wollen auf ein Puzzlespiel von Erinnerungsgräsern, die sich zu einem Strauss formen und am Ende doch kein Ganzes ergeben. Man muss für Paris bereit sein. Vergangenen Oktober waren meine Frau und ich mit Freunden in Paris; den Stadtplan habe ich aufbewahrt. Er war mir bei der Lektüre eine grosse Hilfe. Mit dem offenen Plan neben dem Lesesessel und der Lupe auf dem Tischchen habe ich mich an die Lektüre von "Gräser der Nacht" gemacht, denn Modiano geizt nicht mit Beschreibungen und Bezeichnungen von Strassen und Begegnungsorten, Avenues und Rues, Boulevards und Pariser Stadtvierteln. Ein Paris unkundiger Leser wird an diesem Roman vielleicht keinen Gefallen finden.


Zudem musste ich die ersten Seiten dreimal von vorne beginnen, da ich abends vor dem zu Bett gehen nicht mehr konzentriert genug war, wie sich beim Weiterlesen herausstellte. Man sollte nichts auslassen oder überlesen, obwohl es Leserstimmen gibt, die besagen, dass man in dieser Geschichte irgendwo zu lesen beginnen könnte, weil sie keiner Chronologie folgt. Meiner Meinung nach verliert man dann nur den Faden. Man taucht ein in das anonyme Leben in einer Stadt, in einen dunklen Pulk von Erinnerungen, die Modiano in wehmütiger, aber auch dunkler Atmosphäre präsentiert. Wäre "Gräser der Nacht" ein Film, könnte man ihn zweifelsohne als "film noir" bezeichnen.


Es ist nicht einfach, eine Geschichte zusammenzufassen, wenn sie keiner chronologischen Struktur folgt. Immer wieder springt der Autor auf der Zeitachse vor und zurück, einmal befinden wir uns in den Sechzigerjahren, dann wieder in der Gegenwart, wo Jean, der Ich-Erzähler der Geschichte, sich aus der Distanz eines halben Jahrhunderts an eine Etappe seiner Jugendzeit im Pariser Viertel Montparnasse zurückzuerinnern versucht, wo er eine junge Frau kennen lernt, die sich Dannie nennt und mit der er drei Monate seines Lebens verbringt. Jean ist ein verträumter Mensch, geht keiner Arbeit nach, führt ein schwarzes Notizbuch, in das er Namen, Adressen, Kleinanzeigen, Telefonnummern, Beobachtungen, niederschreibt; Dinge, die andere als belanglos erachten würden. So auch Aufzeichnungen über historische Personen aus dem 19. Jahrhundert wie Tristan Corbière, Charles Baudelaire, Jeanne Duval oder die Baronin Blanche. Weil er über diese Figuren einen Roman schreiben will. So vermischen sich in seinem Notizbuch historische Aufzeichnungen mit Beobachtungen aus seinem Alltag.


Schon bald, als Jean auch Bekanntschaft mit gewissen anderen Personen macht - Aghamouri, Paul Chastagnier, Gérard Marciano, Duwelz und Rochard, genannt Georges, die alle im Unic Hôtel im Quartier Latin logieren - muss er feststellen, dass Dannie ein undurchsichtiges Leben führt. Aghamouri scheint mehrere Adressen zu besitzen, Jean lernt ihn in der Cafeteria der Cité Universitaire kennen, wo dieser ein Zimmer im marokkanischen Pavillon bewohnt. Aufgrund seines Alters und Erscheinungsbildes scheint Aghamouri aber kein Student zu sein, ausserdem soll er eine Frau haben, die er selten sieht. Aghamouri ist es, der Jean irgendwann erzählt, dass er Dannie mit den anderen Personen zusammengebracht hat, damit diese ihr falsche Papiere besorgen können, denn sie sei in eine üble Geschichte verstrickt, und Jean solle sich am besten von ihr trennen und von den anderen fernhalten.


Doch Jean interessieren diese anderen Personen nicht. Für ihn zählt allein, dass er mit Dannie die Quais entlangschlendern kann. In der Nacht spazieren sie durch die Strassen von Paris, und einmal verreisen sie auch in ein Landhaus in einem Dorf, dessen Name Jean sich nicht aufgeschrieben hat, von dem er später nicht mehr weiss, auf welchen Wegen sie dorthin gelangt sind, und das sie in einer Nacht- und Nebelaktion auch wieder verlassen. Jeans Zusammensein mit Dannie scheint von Schatten begleitet zu sein, oft kommt er sich vor wie auf der Flucht, als würde Dannie sich vor irgendwelchen Personen verstecken oder vor ihnen davonlaufen. Doch scheint es ihm nicht wichtig genug, ihre Undurchsichtigkeit zu durchleuchten.


Wo der Leser sich auf Jeans Erinnerungsachse gerade befindet, ist nicht immer leicht auszumachen. Schon zu Beginn des Buches erfahren wir, dass Jean zu diesen zwielichtigen Personen von einem gewissen Inspektor Langlais zweimal verhört wird, wegen eines ungelösten Todesfalls, dessen Spur zu einer mysteriösen Abendgesellschaft fĂĽhrt. Zu diesem Zeitpunkt ist Dannie aber schon verschwunden, und alle Erinnerungen mit ihr und den anderen Personen liegen zeitlich vor diesem Ereignis des Verhörs. Von Langlais erfährt Jean auch, dass Dannie verschiedene Namen zu benutzen scheint, so wird er gefragt, ob ihm der Name Mireille Sampierry geläufig sei, was Jean verneint. Zwanzig Jahre nach diesem Verhör erhält Jean von dem bereits pensionierten Langlais die Akte ĂĽber diesen Fall geschenkt. Mithilfe dieser Akte will Jean nun einige Anhaltspunkte in seinem Notizbuch ergänzen. So ist "Gräser der Nacht" letzlich ein Monolog, eine Verschachtelung von Erlebnissen, ein Tagebuch von Erinnerungsfetzen, eine Aufarbeitung der Vergangenheit in einem Paris, das in einer bedrĂĽckenden und doch faszinierenden Stimmung geschildert wird. 


Leider bleiben mir die Figuren irgendwie fremd. Bei Dannie ist das in gewisser Weise nachvollziebar, da sie auch Jean selbst ein Rätsel bleibt, eine Frau mit Geheimnissen, denen er nie auf die Spur zu kommen gedenkt. Sehr oft bietet sich ihm im Zusammensein mit Dannie einfach nicht der richtige Zeitpunkt an, Fragen zu stellen und tiefer zu graben; zu gleichgültig und distanziert wuselt Jean sich durch seine Jugendzeit. Ich denke jedoch, dass es Modianos Absicht war, nicht den Personen Tiefe zu verleihen, sondern der Atmosphäre eine Dichte, die den Leser in ein Paris der verlorenen Seelen und Erinnerungen hineinzieht.


Die einzige Figur, die vor meinem geistigen Auge etwas mehr Konturen erhält, ist Aghamouri, mit dem Jean irgendwann ein doch ernsteres Gespräch führt, während sie durch die Strassen von Paris schlendern, und von dem Jean einiges über Dannie erfährt und auch über Aghamouri selbst. Dass dieser den marokkanischen Spezialeinheiten angehörte, erfährt Jean erst aus der Akte, die er Jahre später von Langlais ausgehändigt bekommt. Einmal dachte ich, dass hoffentlich nicht zu viel Autobiografie in dieser Geschichte steckt, denn mir schien es etwas fragwürdig, warum Jean sich denn so gleichgültig auf diese bedrohliche Reise voller Fragezeichen einlässt. Auf Wikipedia konnte ich jedoch nachlesen, dass in "Gräser der Nacht" Patrick Modianos Alter Ego mehr zu Wort kommen soll als in seinen anderen Romanen.


Review mit Zitaten und Bildern auf https://www.bookstories.ch/gelesenes1/gr%C3%A4ser-der-nacht 

Cover des Buches Damit du dich im Viertel nicht verirrst (ISBN: 9783957130037)
Jorokas avatar

Rezension zu "Damit du dich im Viertel nicht verirrst" von Patrick Modiano

Ein Aufrollen des Vergangenen
Jorokavor 5 Monaten

Vielleicht ist der Grundgedanke der Handlung ja noch interessant. Hinsichtlich der Umsetzung wäre ich mir da nicht mehr so ganz sicher. Eine schmerzhafte Konfrontation mit der teilweise verdrängten eigenen kindlichen Vergangenheit, aus einer zufälligen (?) Begegnung heraus, mit einem Mann, der das verloren geglaubte AdressbĂĽchlein gefunden und zurĂĽckgebracht hat. Doch welche BeweggrĂĽnde hat er wirklich? So manches bleibt im Dunkeln, wird nur angerissen und dann nicht mehr weiter verfolgt. So kommt mir der Verlauf ein wenig wie eine Fahrt im Nebel vor, auf der schemenhaft immer mal wieder Bilder auftauchen. Dabei werden die verschiedenen Zeitebenen bunt zusammen vermischt. Das hätte durchaus spannend sein können, doch die Trennschärfe fehlt mir auch hier. Manches wirkt einfach fragmentarisch auf mich. 


Zusätzlich verwirrend empfand ich die Vielzahl von unterschiedlichen Namen von Menschen, StraĂźen und Orten, die mal mehr, mal weniger mit dem Haupthandlungsstrang zu tun haben. Mir fiel es schwer, sie auseinander zu halten. 



Ulrich Matthes schätze ich als Schauspieler sehr. Diese Lesung von ihm hat mir auch von seinem Stil nicht sonderlich gut gefallen. Wirkt er gelangweilt? Oder abgeklärt? Er spricht die französischen Worte sehr betont aus. Doch sein Vortrag bleibt fĂĽr mich insgesamt irgendwie kĂĽhl, blutleer. Vielleicht passt das zum Inhalt, doch da dieser mich auch nicht angesprochen hat, konnte ich insgesamt keinen Zugang finden. 


Es handelt sich um eine ungekĂĽrzte Lesung auf 3 CDs mit ca. 3,5 Stunden Dauer. 


Fazit: Mir ist es egal, ob jemand den Literaturnobelpreis erhalten hat oder nicht. Mich sollte die Geschichte ansprechen und fesseln. Diese tat es eindeutig nicht. 




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Zusätzliche Informationen

Patrick Modiano wurde am 30. Juli 1945 in Paris (Frankreich) geboren.

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