Cover des Buches Im Café der verlorenen Jugend (ISBN: 9783423142748)
Rezension zu Im Café der verlorenen Jugend von Patrick Modiano

Im Café der verlorenen Jugend - Patrick Modiano

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 7 Jahren

Kurzmeinung: Patrick Modiano beschwört das Paris der Sechzigerjahre hervor, das schöner und melancholischer nicht sein könnte.

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 7 Jahren
„Im Café der verlorenen Jugend“ („Dans le café de la jeunesse perdue“) ist Patrick Modianos berühmtester und wohl auch schönster Roman. Vier Menschen erinnern sich an das Leben einer jungen Frau zurück und begeben sich auf die Suche nach der Wahrheit.

Als Jacqueline Delanque zum ersten Mal das Café „Le Condé“ betritt, zieht sie sofort die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich. Sie wirkt verschlossen und einsam und da niemand weiß, wie sie heißt, weil sie anfänglich mit niemandem spricht, erhält sie den Spitznamen Louki. Das erzählt die erste Stimme, ein Student der Bergbauhochschule in Paris und regelmäßiger Gast im „Le Condé“. Er stellt den Leser*innen außerdem die Stammgäste des Cafés, die Künstlerbohème und Intellektuellenszene, vor – und darunter sind einige bekannte Persönlichkeiten: Arthur Adamov, Olivier Larronde, Maurice Raphaël und Yann Babileé besuchen regelmäßig das Café der verlorenen Jugend.

„BOHEMIEN“: PERSON, DIE EIN UNSTETES LEBEN FÜHRT, OHNE REGELN, OHNE SORGEN UMS MORGEN. DAS IST EINE DEFINITION, DIE AUF DIE BESUCHER UND BESUCHERINNEN DES CONDÉ GENAU PASSTE. – S. 13
Die zweite Nachforschung stammt von Pierre Caisley, einem Privatdetektiven, der beauftragt wurde, um den Aufenhaltsort von Jacqueline zu ermitteln. Doch umso mehr er forscht, umso mehr er herausfindet, desto mehr Fragen ergeben sich aus dem neugewonnenen Wissen. Ein wenig mehr Klarheit bekommen wir, wenn Jacqueline im dritten Teil selbst zu Wort kommt, wir lernen sie und ihre Beweggründe kennen oder zumindest zu erahnen. Sie ist getrieben von der Sehnsucht nach Freiheit, nach Unabhängigkeit und ist dennoch auf der Suche nach der Liebe, nach einem Halt und einem Sinn in Leben. In den letzten beiden Kapiteln erinnert sich schließlich Rolande, der Mann in der braunen Wildlederjacke, wie er zunächst heißt, an Jacqueline zurück. Die vier verschiedenen Erzähler unterscheiden sich voneinander, sodass der Roman zu einer Mischung aus realistischem Roman, Autofiktion, Krimi und Biographie wird.

DENN JE LÄNGER ICH DARÜBER NACHDACHTE, DESTO MEHR BESTÄTIGTE SICH MEIN ANFÄNGLICHER EINDRUCK: SIE SUCHTE ZUFLUCHT, HIER, IM CONDÉ, ALS WOLLTE SIE VOR ETWAS FLIEHEN, EINER GEFAHR ENTRINNEN. – S. 11
Alle Personen, die sich an Jacqueline zurückerinnern, haben eines gemeinsam: Sie versuchen, die Wahrheit über Jacqueline herauszufinden, die sie alle jedoch niemals erhalten werden. Dadurch bleiben auch die Leser*innen im Ungewissen und können nur erahnen, wer sie ist und was mit ihr geschah. Viel deutlicher ist das Bild des Paris‘ der Sechzigerjahre, das Patrick Modiano in gewohnter Manier seinen Leser*innen in die Vorstellung zeichnet, wenn Louki allein oder gemeinsam mit Rolland durch die nächtlichen Straßen der französischen Hauptstadt streift. Ein Paris und das Condé in einem Bohèmeviertel, das es, wie die Gegenwart, in der Rolande erzählt, zeigt, nicht mehr gibt.

SPÄTER HABE ICH DEN GLEICHEN RAUSCH IMMER DANN VERSPÜRT, WENN ICH DIE BRÜCKE ZU JEMANDEM ABBRACH. ICH WAR NUR DANN WIRKLICH ICH SELBST, WENN ICH AUSRISS. – S. 101

Louki sehnt sich nach der Schwerelosigkeit – sie experimentiert mit Drogen, sucht Zuflucht in einer Buchhandlung und hinter den Büchern – und dieses Gefühl spiegelt der Roman wider. Nach dem Lesen blieb ich mit ungelösten Rätseln, unbeantworteten Fragen und einer gewissen Beklommenheit, angesichts des Verlustes, der Sehnsucht und der verlorenen Jugend der Erzähler, zurück. Patrick Modiano schafft es, auf den wenigen Seiten seiner schmalen Romane, mit den einfachsten und beiläufigsten Worten, tiefste Gefühle zu transportieren, die mich auch nach dem Lesen nicht loslassen.

Patrick Modiano zeichnet in „Im Café der verlorenen Jugend“ das Porträt einer jungen Frau, die getrieben von der Sehnsucht nach Schwerelosigkeit und einem Halt im Leben, vor ihren Erinnerungen und anderen Menschen, aber vor allem vor sich selbst flieht. Dabei beschwört er das Paris der Sechzigerjahre hervor, das schöner und melancholischer nicht sein könnte. Ich habe dieses Buch geliebt! – Patrick Modiano ist nicht umsonst einer meiner liebsten Autoren.


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