Cover des Buches 4 3 2 1 (ISBN: 9783498000974)
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Rezension zu 4 3 2 1 von Paul Auster

Das Leben - ein Spiel

von Buecherschmaus vor 7 Jahren

Rezension

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Buecherschmausvor 7 Jahren

Paul Austers Opus magnum, von ihm selbst Lebenswerk genannt, ein Buch mit über 1200 Seiten, zeitgleich im Original wie auf Deutsch erschienen, gleich auf Platz 2 der Spiegelbestsellerlisten geklettert (wenn auch nach wenigen Wochen schon wieder am Hinabgleiten, was auf eine eingeschworene Fan-Gemeinde hindeutet, die das Erscheinen herbeigesehnt hat und weniger auf „Gelegenheitskäufer“), hohe Rezensionsdichte in allen branchenrelevanten Medien, mal geliebt, mal als „zäh“ und „eindeutig zu lang“ bezeichnet – Paul Austers pünktlich zu seinem 70.Geburtstag am 3. Februar 2017 der geneigten Leserschaft vorgelegtes 4 3 2 1 hat es in sich.
Gleich vorweg – ein derart umfangreiches, ambitioniertes Buch kann nicht auf allen 1259 Seiten gleichermaßen fesseln. Da schleicht sich mal die eine oder andere Länge ein (dabei, was ist denn so eine „Länge“? Was der eine Leser als minutiöse Beschreibung schätzt, als Zeit, die der Autor sich, der Geschichte, dem Leser gewährt, tut der andere Leser als langweilig ab), da gibt es Erzählstränge oder Personen die mehr und solche die weniger fesseln. Auch bei mir gab es Phasen, in denen ich wünschte, das Buch wäre vielleicht nicht ganz so umfangreich, würde etwas schneller voranschreiten. Dass es Paul Auster aber immer wieder gelungen ist, diese Phasen vorübergehen zu lassen und die Leselust erneut zu entfachen, dass er ein äußerst klug komponiertes, dabei spielerisches, tiefes und äußerst interessantes Buch geschaffen hat, dafür ist er sehr zu bewundern. Und spricht für seine literarische Meisterschaft.
Gleich zu Beginn zieht er den Leser in seine Geschichte hinein, indem er die vielzitierte Geschichte des Urgroßvaters seines Protagonisten erzählt. Dieser neunzehnjährige Isaac Reznikoff landete nach anstrengender Reise von Minsk und einer strapaziösen Atlantiküberfahrt mit der „Kaiserin von China“ endlich in Ellis Island vor der Einwanderungsbehörde. Es war der 1. Januar 1900 und quasi als Neujahrsgeschenk riet ihm ein erfahrener Landsmann, seinen ostjüdischen Namen zu vergessen und lieber anzugeben, er hieße Rockefeller. Nach mehrstündiger Wartezeit endlich von einem Beamten nach seinem Namen gefragt, bekommt Issac nur noch ein verzweifeltes „Ich hob fergessan!“ zustande, das der pflichtbewusste Beamte als Ichabod Ferguson notierte. Ein sicher etwas burlesker Scherz, der zukünftig zur Familienlegende werden sollte und sehr schön gleich zu Beginn das ausdrückt, worum es in den nächsten weit über 1000 Seiten gehen soll: Identitätsfindung, die Neuschaffung von Identität, die Vielfältigkeit von Identitäten und auch die Macht des Zufalls, die darüber entscheidet, welche davon verwirklicht wird. Und die Frage, ob es über dieses Roulettespiel des Zufalls hinaus etwas Unveränderbares, vielleicht so etwas wie Seele gibt.
Durchgespielt wird dieses Gedankenexperiment anhand des Urenkels des einstigen Einwanderers, Archibald Ferguson. Dieser wächst als einziges Kind von Rose Adler und Stanley Ferguson auf. Dem Vater gelingt es, aus einer kleinen Radioreparaturwerkstatt ein erfolgreiches, expandierendes Unternehmen zu machen und damit auch seine eher lebensuntüchtigen Brüder durchzufüttern, „Three Brothers Home World“ entwickelt sich schon bald zu einem der führenden Kaufhäuser für Haushaltsgegenstände aller Art. Soweit die Familiengeschichte, die uns im allerersten Kapitel erzählt wird.
Am 3. März 1947 (genau einen Monat nach dem Autor!) erblickt Archibald das Licht der Welt. Und hier startet der Autor sein Gedankenexperiment. Verschiedene Lebensmöglichkeiten und Lebenswirklichkeiten spielt er anhand von vier Variationen dieses Archibald Ferguson in jeweils sieben Kapiteln durch, untersucht, wie sich bei gleicher Ausgangslage durch Wandel kleiner Faktoren, meist durch die Macht des Zufalls dessen Identität und Charakter, seine Lebensumstände, seine Vorlieben und Beziehungen sich verändern – oder eben auch nicht.
Dabei bedient sich Paul Auster den aus seinen bisherigen Werken bekannten Versatzstücken und immer wieder greift er tief in die autobiografische Kiste. Sein striktes Beharren darauf, dass seine Romane rein fiktional sind, scheint dabei schon ein wenig kokett. Kennt man sein autobiografisches Werk, trifft man hier bei Ferguson auf viel Bekanntes. Nicht nur sein Geburtsjahr, seine Geburtsstadt Newark, der ostjüdische Familienhintergrund, die Liebe zu Base- und Basketball, sein Studium, die Neigung zu Frankreich und den französischen Lyrikern, der Parisaufenthalt und viele andere äußere Richtmarken tauchen auf, selbst kleine Episoden wie eine frühkindliche Verletzung, der Tod eines Schulfreundes durch einen Blitz oder eine durchgemachte Gastrits kennt man fast 1:1 aus den autobiografischen Aufzeichnungen. Der Leser bewegt sich immer in einem dezidierten Auster-Kosmos.
Das ist äußerst kunstfertig gemacht, spielerisch und elegant. Die Verschiebungen sind meist klein. Das wurde in manchen Kritiken moniert. Warum bricht keiner der vier Archies aus, macht etwas völlig anderes? Das ginge aber an der Erzählintention und auch an der Lebendwirklichkeit vorbei. Seien wir ehrlich, ganz so frei in der Bestimmung wer oder was wir sein wollen, sind wir doch gar nicht. (Und außerdem begleiten wir Archie maximal bis Anfang der Siebziger Jahre.) Außerdem steckt wohl die Vermutung dahinter, dass es doch so etwas wie einen inneren Kern, etwas Unwandelbares, vielleicht eben ja doch eine Seele gibt, die sich immer treu bleibt. So kreisen auch alle Archies um die Kunst, beschäftigen sich auf die ein oder andere Art und Weise mit dem Schreiben, sind allesamt sehr stark an Sexualität interessiert, gut aussehend, aber eher introvertiert.
Das macht das Lesen nicht immer ganz einfach. Ich muss zugeben, dass ich trotz vorherigem Wissen des groben Aufbaus den ersten Wechsel vom einen zum anderen Archie gar nicht registriert hatte, dass sich die Verwirrung erst so langsam breit machte. Diese Verwirrung, die sich in häufigerem Zurückblättern äußern kann, und der ich dann durch Notizen einigermaßen Herr wurde, ist sicher beabsichtigt (trotz klarer Gliederung in Kapitel 1.1, 1.2 usw.). Am Ende führt Paul Auster seine Geschichten aufs kunstvollste wieder zurück an die Anfangsszene mit dem verwirrten Ichabod Ferguson. Indem die Mutter ihrem Sohn diese alte Familiengeschichte erzählt, legt sie den Grundstein für das vorliegende Buch, das der letzte verbliebene Archie schreiben wird.
Eine komplizierte Struktur also, bei der Auster aber meisterhaft die Fäden in der Hand behält, eine philosophisch ambitionierte, spielerisch verpackte Geschichte, ein in klarer, gut lesbarer Sprache verfasster, anrührender Bildungsroman und – das nicht zuletzt – ein spannendes Geschichtsbuch der Sechziger Jahre. Die Kennedyjahre, der Rassismus, die Rassenunruhen 1965 und 1967, der Marsch auf Washington, der Vietnamkrieg, Martin Luther King und die Wahl Nixons – alle diese Dinge finden auf völlig organische Weise Eintritt in die Geschichte und vermitteln viel Zeitkolorit. Weisen aber auch auf verblüffende Art in unsere Gegenwart. Auch damals war die Gesellschaft aufs extremste zerrissen, die Lage ungeheuer gespannt. Je nach Standpunkt tröstlich („Alles schon da gewesen, geht auch wieder vorbei.“) oder aber sehr alarmierend („Nichts gelernt, die Geschichte wiederholt sich stets.“) Zumindest zeigt die Lektüre, dass es die einfachen, populistischen Antworten nicht geben kann, wo doch schon das Individuum, so vielfältig ist.
Paul Auster ist mit 4 3 2 1 ein großartiges, beeindruckendes Werk gelungen. Ein wahres Lebenswerk.

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