Seine Gedichte werfen Bilder in die Augen. Seine neuen Wörter scheinen aus einer fremden Welt zu kommen, sind vielzählig und unverkennbar einprägsam. Schöpfungen wie "Lichtzwang", "Sehstein", "Herzschall-Fibeln", "Finsterzwille", "Abgrundvers", "Schlaffarbe", "Freiaugen", "wildernde Überzeugung", "abweltweiß", "durchvatert" oder "geursprungt" zeigen, dass er ein bildersüchtiger Lyriker war. "Die Schwüle sprachloser Lieder", "meiner Verzweiflung lautlose Geduld" - mittels Sprache schuf Paul Celan eine "entdinglichte Welt". Er war ein Philosoph und Mystiker, immer auf der Suche nach dem Absoluten, sah die Lyrik selbst als Mystik an und chiffrierte daher seine Gedichte. So blieben die meisten Worte rätselhafte Gedankenbilder, auch wenn er seinen Lesern empfahl: "Lesen Sie! Immerzu nur lesen, das Verständnis kommt von selbst".
Wiedemanns nüchterner, auf Deutung verzichtender Kommentar
Barbara Wiedemann hat sich an die Schwierigkeiten und grundlegenden Widersprüche des lyrischen Werkes von Paul Celan gewagt und 2003 eine fundierte kommentierte Gesamtausgabe herausgegeben. Dazu wählte sie "eine bewusst nüchterne, auf Deutung im eigentlichen Sinne verzichtende Form", wie es im Vorwort heißt, denn "mit der Kenntnis bestimmter Hintergründe, Wortbedeutungen oder Quellen ist ein Gedicht keineswegs 'verstanden'". Was der Leser des umfangreichen Bandes findet ist keine festgelegte Interpretation des Celanschen Werkes, sondern sind ausführliche Informationen zu jedem einzelnen Gedicht. Widmungen und Namen werden erklärt, biografische Anspielungen erläutert und durch bisher nicht bekannte Entwürfe von Texten ergänzt. Erst durch die vielen Querverweise und hergestellten Verbindungen zwischen Celans Gedichten machte Barbara Wiedemann ein tieferes Textverständnis seiner Lyrik möglich.
Beachtliche Edition
Die Autorin hat eine beachtliche Edition zusammengestellt, die jedoch "dem Leser eine intensive Auseinandersetzung mit dem Gedichttext nicht abnehmen kann", wie sie im Vorwort bemerkt. Der Band besteht aus fünf Abschnitten. Die Gedichte teilen sich auf circa 500 Seiten in die Bereiche "I Von Paul Celan zu Lebzeiten publizierte Gedichte" und "II Aus dem Nachlaß publizierte Gedichte". Danach folgt der mehr als 400-seitige Kommentar Wiedemanns, dann ein Verzeichnis der Gedichte in alphabetischer Form und zuletzt ein vollständiges Inhaltsverzeichnis.
Paul Celan und der Leser
Mit Paul Celans Werk vollzog sich ein Neubeginn in der deutschen Nachkriegsliteratur. Niemand schrieb präziser und ausführlicher als er. Seine Sätze schärfen noch heute die Sinne. Celan lag viel am jüdischen seiner Gedichte, wie er immer betonte. Das jüdische Schicksal setzte er gleich mit dem Menschenschicksal überhaupt. Dadurch wird der Leser, egal welcher Religion er zugehört, direkt angesprochen. Es geht um ihn, den Leser.
Das "hellgeatmete Nein"
Beim und durch das Entschlüsseln seiner Worte wird deutlich, dass Celan ein Zweifler war, ein Skeptiker, der Angst hatte und der es "schwer und schwer und schwer" hatte. Er war ein Heimatloser, "heimgeschmerzt" von der Suche eines Ortes, den er sein zu Hause nennen konnte. Doch der, der durch Flucht dem Holocaust entkommen ist, blieb ein lebenslanger Flüchtling. Weder in Paris noch in Israel oder Deutschland fand er, was er herbeisehnte. Das "hellgeatmete Nein" muss wohl allgegenwärtig gewesen sein in seinen Gedanken an einen geografischen Lebensmittelpunkt.
Paul Celan wurde 1920 als Paul Antschel in Czernowitz -ehemals Rumänien, heute Ukraine- in einer deutschsprachigen, jüdischen Familie geboren. Er "zackerte", will heißen: Er arbeitete unentwegt und datierte seine Texte oft bis auf die Minuten genau. Er war ein engagierter Lyriker und Übersetzer und erhielt unter anderem den Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung im Jahr 1960. Mit noch nicht ganz 50 Jahren resignierte er jedoch, sagte "Nein" zum Leben und beging im April 1970 Selbstmord.