Mit der Kriminalnovelle »Andrea Delfin«, deren Schauplatz die Lagunenstadt Venedig ist, schuf der deutsche Literaturnobelpreisträger Paul Heyse ein besonders eindrucksvolles Beispiel einer spannenden und formvollendeten Novelle.
Andrea Delfin kommt spät abends in Venedig an und sucht Unterkunft bei signora Giovanna Danieli.
Der Anblick des Gastes rechtfertige ihr Vertrauen. Er trug, soviel sie in der Dämmerung sehen konnte, die anständige schwarze Kleidung des niederen Bürgerstandes, einen ledernen Mandelsack unter dem Arm, den Hut bescheiden in der Hand. Nur sein Gesicht befremdete die Frau. Er war nicht jung, nicht alt, der Bart noch dunkelbraun, die Stirn faltenlos, die Augen feurig, dagegen der Ausdruck des Mundes und die Art zu sprechen müde und überlebt, und das kurgeschorene Haar in seltsamen Gegensatz zu den noch jugendlichen Zügen völlig ergraut.
Er trägt drei Dolche bei sich, die er gut in seinem Zimmer versteckt und auf denen die Wörter „Tod allen Inquisitoren“ eingraviert stehen. Andrea ist Nachfahre einer adligen Gutsbesitzerfamilie aus dem venezianischen Gouvernement Friaul. Nach dem Tod seines Bruders und seiner Schwester, für den er die Machthaber der Republik Venedig verantwortlich macht, kommt er als Rächer in die Lagunen-Metropole und will drei von ihnen töten.
Als Andrea als Spitzel für die Venezianer angeheuert wird, um den Gesandtschaftssekretärs der Habsburger in Venedig, Baron Rosenberg, auszuspähen, sieht er das als Schicksalswink. Er kennt Baron Rosenberg bereits und bald entwickelt sich eine Freundschaft zwischen beiden Männern. Bei seinem Versuch, den Staatsinquisitor Ser Malapiero zu töten, kommt es zur Katastrophe. Andrea ersticht versehentlich seinen Freund, den maskierten Baron Rosenberg.
Andrea Delfin verzweifelt an dieser Tat und ertränkt sich in offener See.
Meine persönlichen Leseeindrücke
„Andrea Delfin“ ist ein literarisches Kleinod und eine exzellente Novelle, die sich mit dem großen ethischen und juristischen Thema Selbstjustiz auseinandersetzt. Es geht um die Frage, ob man selber richten darf, wenn es für einen guten Zweck ist. Die Antwort, die Paul Heyse gibt, ist offenbar nein - jedenfalls nicht ungestraft.
Paul Heyse ist ein achtsamer Beobachter, der seine Figuren penibel genau analysiert und skizziert und sie in einem Umfeld agieren lässt, dass perfekt auf sie abgestimmt ist. Dabei gelingt es ihm mühelos, den achtsamen Leser zu packen und in eine Geschichte zu involvieren, deren Spannung bis zum Schluss bleibt. So ergreife auch ich tatsächlich Andreas Seite und habe mich um die Morde nicht groß bekümmert. Und genau das wollte der Autor auch bewirken, oder? Das man so mitfühlt und eigentlich auch die eigenen moralischen Grenzen nicht weiter hinterfragt.
Und begleitete ihn nicht noch immer die Hoffnung, daß aus seiner Freveltat dennoch Rettung und Befreiung für seine Mitbürger erblühen könne, daß vielleicht sogar der Mord des Unschuldigen, den die Stimme des Volkes unfehlbar dem Tribunal zuschreiben würde, das begonnene Werk vollenden und das Maß der Gewaltherrschaft würde überfließen machen?
Wie historisch korrekt recherchiert, war Venedig eine grausame Republik, die sich Abtrünnigen mit brutaler Gewalt entgegenstellte. Das hat Andrea am eigenen Leib erfahren müssen, als seine Familie ausgelöscht wurde und vom prachtvollen Anwesen nichts mehr übrig blieb. Wie hätte er diese Taten rächen können? Auf rechtem Wege war dies nicht möglich. Das Volk war einer jahrhundertelanger Unterdrückung und Knechtschaft wehrlos ausgesetzt und ein Gedanken an eine Befreiung aus dieser Diktatur noch lange nicht ausgereift.
Was mich bewegt, für ein ganzes in Knechtschaft versunkenes Volk als Retter aufzutreten und einzeln den Spruch zu vollstrecken, der zu anderen Zeiten vom Gesamtwillen einer freien Nation über ungerechte, dem Arm des Richters unerreichbare Mächtige verhängt worden ist -, es ist weder Eigensuch noch eitle Rumbegier, es ist nur eine Schuld, die ich durch einen tatenlose Jugend auf mich geladene habe und an deren Bezahlung mich damals Eurer Bild im Palast Morofini mahnte.
Und wie sieht es mit der Moral der Geschichte aus? Immerhin hat es Paul Heyse geschafft, dass ich es mehr und mehr geschluckt habe in gewisser Weise, dass hier Einer im Sinne der „gerechten Sache“ und „heiliger Pflicht im Sinne höherer Notwendigkeit“ rumläuft und mordet und ich als Leser mit ihm zittere, und am Ende nicht nur um den unschuldigen jungen Baron trauere, sondern natürlich auch um ihn.
Obwohl die Handlung schwer verdaulich scheint, ist „Andrea Delfin“ keine tristes Novelle. Paul Heyse schreibt sehr angenehm, mit der Figur der signora Gioivanna und deren volkstümlichen Weisheiten gelingt ihm sogar eine feine Komik. Literarisch ist das Schreibkunst auf höchstem Niveau und obwohl das Werk schon mehr als 150 Jahre alt ist, ist es ein absolutes Lesevergnügen, wenn man denn die deutsche Sütterlin-Druckschrift gut lesen kann. Ich habe diese in der Schule gelernt und somit war es wie ein Wiederholen von Jugenderinnerungen.
Fazit
„Andrea Delfin“ ist eine Kriminalnovelle des deutschen Literaturnobelpreisträgers Paul Heyse, deren Schauplatz die Lagunenstadt Venedig ist. Andrea Delfin ist gekommen, um seine Familie zu rächen, die durch die grausamen Taten der Republik Venedig schwer getroffen wurde.