Cover des Buches Goethes Leichen (ISBN: 9783954517169)
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Rezension zu Goethes Leichen von Paul Kohl

Goethe mal anders

von Igelmanu66 vor 7 Jahren

Kurzmeinung: Goethe mal anders. Toll geschrieben, spannend und mit authentisch wirkendem Szenario.

Rezension

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Igelmanu66vor 7 Jahren

Kestner zog die Schublade seines Nachtkastens auf, wie er es immer machte, bevor er sich in einem neuen Hotelzimmer einrichtete. Oft hatten Gäste darin etwas liegen lassen. Er fand wie üblich eine Bibel, doch auch einen ausgeschnittenen Zeitungsartikel des »Weimarischen Wöchentlichen Anzeigers«. Er nahm ihn heraus. Er war von gestern, Samstag, den 22. November. Kestner las: »Zwei Morde in Weimar. Vor drei Tagen geschahen in Weimar zwei entsetzliche Morde. Der Schmied Konrad Bertold wurde in seiner Schmiede mit einem Hammer erschlagen und gefesselt in seiner Esse verbrannt. Der Bauer Jörg Jäckel wurde beim Melken rücklings mit einer Mistgabel erstochen. Die Täter sind noch nicht gefasst.«

Weimar, im November 1783. Der Archivsekretär und Hofrat am Kurfürstlichen Hof Hannover Christian Kestner ist nach Weimar gereist, um in der dortigen Bibliothek eine wertvolle Handschrift abzuholen. Doch dies erweist sich als schwierig und während Kestner versucht, seinen Auftrag auszuführen, ist um ihn herum die Welt in Aufruhr. Die beiden Morde sind nicht die einzigen Dinge, die die Menschen bewegen! Eine Kindsmörderin soll hingerichtet werden, immer wieder werden junge Männer als Rekruten nach Preußen verkauft und irgendjemand scheint Kestner und seinen jungen Gehilfen Lorenz zu verfolgen. Selbst der Besuch bei seinem alten Freund Goethe sorgt nicht für die erwartete Freude, denn dieser hat sich irgendwie verändert…

Historische Kriminalromane lese ich immer wieder gerne und dieser hier hat sich wirklich gelohnt. Als Kestner und Lorenz in Weimar eintreffen, haben sie ziemlich einfache Pläne: Die Bibliothek aufsuchen und Goethe treffen. Mit dem, was dann passiert, hatten sie nicht im Entferntesten gerechnet und die Ereignisse und Zustände in Weimar schockieren sie zutiefst. Schnell verlängert sich ihre To-Do-Liste um die Punkte: Zwei Morde aufklären, eine Hinrichtung verhindern, das System der Zwangsrekrutierungen ergründen und herausfinden, wer ihr unheimlicher Verfolger ist.

Die beiden stellen das klassische Amateurermittlergespann dar, dessen Reiz auf der Gegensätzlichkeit der Charaktere beruht. Kestner ist ein Archivar mit Leib und Seele, der großen Wert auf Recht und Ordnung legt und den es glücklich macht, ein schönes Buch in den Händen zu halten. Lorenz hingegen ist ganz begeistert von den aus Frankreich herüberschwappenden Revolutionsgedanken, ein junger Heißsporn, der die Welt verbessern möchte und gerne (und oft) unüberlegt handelt. Wie meist bei solchen Paarungen ist reichlich Konfliktpotential da, was also nicht überraschend, hier aber gut umgesetzt ist.

Besonders reizvoll ist das gesamte Szenario. Die Zustände in Weimar werden so ausdrucksstark und atmosphärisch dicht beschrieben, dass ich alles klar vor Augen hatte und manches Mal richtig erschüttert war. Diese Zeit war für einfache Menschen mehr als schwer und das wird sehr, sehr deutlich. Einige Schilderungen sind recht drastisch, aber ich denke, dass dies (leider) den damaligen Verhältnissen entspricht.

Goethe lernt der Leser von einer sehr speziellen Seite kennen. Wer ihn bislang nur als Dichter kannte, wird überrascht sein. Der Autor hat zwar einen Roman geschrieben, die Handlung aber vor historischem Hintergrund angelegt, gut recherchiert und neben Goethe und Kestner noch weitere reale Personen agieren lassen. So wirkt alles sehr realistisch und die (vermutlich) fiktiven Handlungen und Dialoge bilden mit den historischen Tatsachen ein stimmiges Ganzes. Mit einer Ausnahme – und die heißt Mephistopheles. Dieser tritt in Erscheinung und bindet so auf interessante Weise auch noch die Faust-Thematik mit ein. Allerdings wurde das für meinen Geschmack zum Ende hin ein bisschen viel – ich mag’s einfach lieber real.

Fazit: Goethe mal anders. Toll geschrieben, spannend und mit authentisch wirkendem Szenario.

»Denn alles Bestehende ist wert, dass es zugrunde geht.«

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