Cover des Buches Mutterland (ISBN: 9783455002904)
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Rezension zu Mutterland von Paul Theroux

„Das ist Leben, sagten wir, meinten aber: Das ist der Tod.“

von Insider2199 vor 6 Jahren

Kurzmeinung: „Das ist Leben, sagten wir, meinten aber: Das ist der Tod.“ (*****)

Rezension

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Insider2199vor 6 Jahren

"Das ist Leben, sagten wir, meinten aber: Das ist der Tod."

Der 1942 in Medford (Massachusetts) geborene Autor arbeitete in diversen Ländern (unter anderem in Italien und Uganda) als Lehrer und war zudem an der Universität in Singapur tätig. Er konnte sich als Reiseschriftsteller einen Namen machen und lebt heute mit seiner Familie abwechselnd in London und Cape Cod. Der vorliegende Roman ist mein erster von ihm.

Inhalt (Klappentext): Alle in Cape Cod halten Mutter für eine wunderbare Frau: fleißig, fromm, genügsam. Alle außer ihrem Ehemann und ihre sieben Kinder. Für sie ist sie eine engstirnige und selbstsüchtige Tyrannin. Der Erzähler Jay, Reiseschriftsteller mittleren Alters, ist eines der sieben Kinder. Zusammen mit den Geschwistern findet er sich bei der Mutter ein, als der Vater stirbt – die erstickende Enge dort, im wortwörtlichen Mutterland, evoziert eine Bandbreite an Gefühlen, die dem Leser auf unheimliche Weise genau das präsentieren, was sonst immer nur der Horror der anderen ist.

Meine Meinung: Das Lesen dieses Romans fiel mir nicht leicht, nicht weil es ein schlechtes Buch ist, sondern weil der Autor meine eigene Mutter beschreibt und DAS musste ich erst einmal verarbeiten. So viele Parallelen (bis hin zur gleichen Lieblingsfarbe der Mütter!), dass es manchmal fast erschreckend war. Und es löste ambivalente Gefühle in mir aus: einerseits fühlte ich mich getröstet durch die Tatsache, dass ich nicht der einzige Mensch auf Erden bin, der so eine Mutter hat, und andererseits deprimierte es mich zu sehen, was aus dem Helden geworden war – und ich wollte keinesfalls SO enden! Viele Dinge in meinem eigenen Leben wurden mir erst richtig klar, nachdem ich sie in diesem Roman gelesen hatte, und so habe ich viele Stellen angestrichen, die mich zum Nachdenken anregten; tw. hörte ich mich selbst sprechen, wie hier:

„Mutter sagte: »Ich liebe alle meine Kinder gleichermaßen«, aber »gleichermaßen« stimmte nicht, und »Liebe« hörte sich für mich wie ein bloßes Lippenbekenntnis an. Mütter mussten so etwas sagen. Sie konnten ja wohl kaum sagen, dass sie ihre Kinder nicht liebten. Deshalb bedeutete mir diese Erklärung nichts. Wenn sie es sagte, hatte ich nicht das Gefühl, von Liebe umgeben zu sein. Es waren nur Worte, wie man sagte, man würde Gott lieben. Aber Gott war unsichtbar, ungreifbar, und deshalb bedeuteten mir die Worte nichts. Liebe war wie ein selten benutztes Passwort, das man nennen musste, um seinen Willen zu bekommen. Indem sie mir sagte, dass sie mich liebte, zwang Mutter mich, das Badezimmer sauberzumachen oder den Rasen zu mähen. Dadurch lernte ich, dass ich, wenn ich einem Mädchen sagte, ich liebe dich, meine Hand in ihre Bluse schieben und ihre Brust liebkosen konnte. Aber obwohl ich spürte, dass es nur eine manipulative Formel war, konnte ich mich nicht überwinden, Mutter zu sagen, dass ich sie liebte.“

Der anspruchsvolle (dennoch leicht verständliche!) Roman zeichnet sich also vor allem durch hohe Authentizität aus. Als ich in der Bio des Autors las, dass er oft autobiografische Romane verfasst, war alles klar, denn ich glaube, er hat auch hier sehr viele eigene Erfahrungen einfließen lassen. Denn die Situationen werden so gut (erschreckend gut!) beobachtet und geschildert, dass dies einem Außenstehenden sicher nur schwer möglich gewesen wäre. Nach dem Lesen hätte ich dem Autor am liebsten eine e-Mail geschrieben, um ihm zu danken, dass er mir den Spiegel vor Augen gehalten hat. Vielleicht mach ich das noch.

Ich kann natürlich schlecht beurteilen wie ein Leser mit einer glücklichen Kindheit dieses Buch wohl auffassen wird. Vielleicht wird er bald genervt sein durch die Negativität (der Held schwelgt schon manchmal sehr in Selbstmitleid, was ich verstehen kann!) oder er wird denken, dass der Plot zu sehr konstruiert und nicht den Tatsachen entspricht, dass keine Mutter ihren Kindern dies wirklich antun kann, aber ich kann allen Lesern bestätigen, dass es wirklich solche (mit sich selbst unzufriedenen) Mütter gibt – und man kann zeitlebens (nicht mal nach ihrem Tod!) ihrem starken Einfluss entfliehen!

Fazit: Aufwühlend authentisch, ein Roman, wofür ich dem Autor danke – ich kann allerdings nicht beurteilen, ob ein „normaler“ Mensch (mit normal meine ich: einer, der eine „normale“ Mutter hatte) meine Meinung teilen wird. Daher schätze ich, dass das Buch polarisieren wird: Betroffenen wird es helfen, die anderen werden wohl große Augen machen. Von mir gibt es auf jeden Fall die vollen 5 Sterne und eine unbedingte Leseempfehlung!

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