Cover des Buches Die Chancen unserer Kinder (ISBN: 9783608948035)
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Rezension zu Die Chancen unserer Kinder von Paul Tough

Persönlichkeit und Charakter statt Wissensanhäufung

von M.Lehmann-Pape vor 10 Jahren

Rezension

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M.Lehmann-Papevor 10 Jahren
Persönlichkeit und Charakter statt Wissensanhäufung

Noten, Leistungen, abrufbares Faktenwissen, Masterstudiengänge nur nach Bestnoten, Abitur als Voraussetzung für auch einfach strukturierte Lehrberufe (und dann nur mit gutem Durchschnitt), überlaufene Nachhilfeanbieter schon im Grundschulalter, ständiges Schielen auf den PISA Vergleich, die Ausrichtung der „Ausbildung“ des Nachwuchses schon vom Kindergartenalter an ist durchaus weltweit vor allem auf Faktenwissen, konzentriertes und zeitintensives Lernen und einem eher eingeschränkten Verständnis von Bildung hin angelegt.

Zudem sind „Problemkinder“, „Problemschulen“ in „Problemvierteln“ fast an der Tagesordnung der öffentlichen Diskussion.

Paul Tough stellt mit seinem Buch nun einen überraschend anderen Zugang zu den „Glücks- und Erfolgsfaktoren“ für Schüler in der Gesellschaft vor und dekliniert seine Erkenntnisse just an der Praxis eben einer solchen „“Problemschule“ mit „Problemkindern“ durch.

Entgegen des gesellschaftlichen „Mainstreams“, das „kognitive Kompetenz … der Garant für einen selbstbestimmten, erfolgreichen zum Wohlstand“ sei, setzt Tough auf der Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse und auf der „Blaupause“ der „Fenger Highschool“ in Chicago ganz andere Kompetenzen (sogenannte „Soft-Skills“) als „die wichtigen“ zu erwerbenden Kompetenzen für ein gutes, soziales und erfolgreiches Leben.

Wichtiger als „lesen und schreiben können“ empfindet Tough auch bei seinem eigenen Sohn den „Charakter“. „Natürlich muss er es irgendwann lernen (das Lesen und Schreiben). Nur wird er es zur rechten Zeit tun“. Entscheidend aber sei die Persönlichkeit, die das Kind in sich formt und mit der dann das Leben mit seinen auch kognitiven Herausforderungen angegangen werden wird.

Ein stückweit erinnern Toughs Einsichten und argumentativ durchaus überzeugende Darlegungen an das damalige englische Internat „Summerhill“ mit seiner strikt bedürfnisorientierten Ausrichtung. Auch dort wurde ja im Nachgang attestiert, dass Summerhill-Schüler auf der einen Seite mit massiven kognitiven Lücken ins spätere Leben traten, dafür aber durch ihren Charakter persönliche Ziele deutlich klarer angingen und wesentlich schneller erreichten (mit all den kognitiven Inhalten, die dann dafür notwendig waren), als Schüler aus staatlichen „klassischen“ Schul- und Unterrichtsformen.

Ähnliche Erkenntnisse stellt Tough im Buch in Form des Programms „Tools of the Mind“ vor und verdeutlicht Schritt für Schritt dem Leser, dass Ausdauer, Zielorientierung, Verlässlichkeit, Mut, Neugier, Selbstvertrauen, soziale Kompetenz und andere „Soft-Skills“ wesentlich effektivere, bessere und konstruktivere charakterliche Grundlagen für ein „erfolgreiches“ Leben darstellen, als eine noch so große Ansammlung von Faktenwissen.

Eine Erkenntnis, die diametral dem aktuell immensen Druck Kindern gegenüber steht, in deren vermeintlichem „Interesse“ in der modernen Welt hohe Summen aufgewendet werden und fast „gladiatorenhaft“ Kämpfe um bevorzugte Vorschulplätze und Plätze an „leistungsorientierten“ Grundschulen durch jeweilige Eltern stattfinden.

Viel mehr somit als auf Inhalte soll (und muss, folgt man Tough) ein Lehr- und Erziehungssystem auf die emotionale Entwicklung der Kinder achten, soziale Kompetenzen fördern, Zuwendung erlebbar machen, „sich kümmern“, um in der Folge den Kindern zu ermöglichen, sich selbst verantwortlich zu „regieren“, Impulse kontrollieren zu können und, einfach gesagt, ein ausgeglichener und durchaus erfolgreicher Mensch werden zu können.

Sachlich im Ton, sehr differenziert in der Darstellung, von vielen Seiten her fachlich argumentierend und aus der Beobachtung der konkreten Schule in Chicago heraus formuliert Tough nicht unbedingt eine „ganz neue“ Pädagogik, aber eröffnet in bester und umfassender Weise noch einmal neu den Blick auf jene Faktoren, die Menschen zu einem glücklichen und erfolgreichen statt vielleicht nur zu einem „effektiven“ Leben (um den Preis vieler „Zurückgelassener“) führen.

Gerade in der aktuellen Diskussion und dem spürbar zunehmenden Leistungsdruck auf Kinder schon im Kindergartenalter mitsamt massiv auftretender „Helikopter-Eltern“ bildet dieses Buch eine spannende, kreative und andere Wege eröffnende Lektüre nicht nur für Eltern und Lehrer.
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