Es gibt Bücher, mit deren Protagonisten man sich derart anfreundet, dass das Ende der Geschichte dem Ende einer langen Beziehung gleichkommt. Genauso erging es mir mit den Helden aus Pavel Kohouts Roman „Ende der großen Ferien“.
Wir schreiben das Jahr 1983 in der ehemaligen Tschechoslowakei. Die Menschen sind betrübt, sie haben sich einem Regime ergeben, das sie klein hält, sie bespitzelt und ihnen keine freien Wahlen oder eine eigene Meinung zugesteht. Doch manche von ihnen haben sich in diesem Sommer dazu entschlossen, dem Land den Rücken zu kehren und auf abenteuerlichem Wege in den ersehnten Westen zu fliehen. Und so beginnen Schicksale, die schon bald in neuen Bekanntschaften und nicht erahnten Katastrophen enden. Doch allen gemeinsam ist das stete Hoffen auf ein besseres Leben.
Milan ist in Prag ein gefeierter Schauspieler am Theater und auch im Fernsehen. Doch er möchte sich nicht immer wieder hin buckeln müssen, um seine Rollen zu bekommen. Auch sehnt er sich danach, endlich andere Helden geben zu können. Zusammen mit seiner Frau Dora und dem Sohn Petik wollen sie die geplante Reise dazu nutzen, in Kroatien über die Grenze zu gelangen. Doch auch der 2. Versuch, den Grenzübergang legal nach Österreich zu überqueren scheitert und so beschließen sie, zu Fuß durch einen Eisenbahntunnel zu fliehen. Sie haben nur 2 Stunden Zeit, dann kommt der nächste Zug und würde ihnen in dem schmalen Gang keine Chance lassen. Milans Berechnungen zufolge können sie es leicht schaffen, aber die Realität holt sie ein und Dora kann den herannahende Zug in letzter Minute stoppen. Petiks schwaches Herz hat die Aufregung allerdings nicht überlebt.
Lydia war einst eine erfolgreiche Pianistin, die auch im Ausland auftrat und, nachdem sie die Anti-Charta nicht unterschrieb, in künstliche Vergessenheit versetzt wurde. Der junge Gärtner Vaclav hat ihr neuen Mut eingeflöst, in ihrer Beziehung ist sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder glücklich. Als sie mit einer Reisegruppe in einem kleinen, österreichischen Bergdorf übernachten, fliehen sie nachts durch das Fenster und suchen im Pfarrhaus Zuflucht. Am nächsten Tag schon gesellen sich Josef, ein alternder Zauberkünstler und die wortreiche, junge Bobina zu ihnen. Bobina war geflüchtet, als das Verschwinden der beiden gemeldet wurde und sie nicht, wie geplant, nach Wien zum einkaufen konnte. Eine Kurzschlusshandlung, bei der sie ihr gesamtes Gepäck einbüßte. Josef, der in der selben Nacht türmen wollte, geriet während der Fahrt zurück nach Budweis langsam in Panik. Er wollte nicht zurück in sein Heimatland, doch der Stuhl, den Vaclav zur Sicherheit unter die Türklinke geschoben hatte, hatten seine Pläne zunichte gemacht. Als der Bus an der Grenze der österreichische Passkontrolle unterzogen wird, platzt er mit einem Mal heraus, wie dreckig es doch sei, im Kapitalismus zu leben, wie sehr er sich danach gesehnt hat, seine Heimat wieder zu sehen. Er nimmt einen Ziegelstein und wirft ihn in das Glas des Zollamtes. Da er dortbleiben muss, bis der Schaden beglichen ist, sieht er lächelnd dem Bus hinterher, der langsam in Richtung Tschechoslowakei verschwindet, bis er in seine Jacke greift und ein dickes Bündel Schillinge hervorzieht.
Der Zahnarzt Bohdan und seine Frau Terezie haben die Flucht seit langem geplant, nachdem ein Amerikaner in Bratislava ihnen davon erzählte, in den USA werden immer Zahnärzte gesucht. Der Doktor genießt ein hohes Ansehen, weshalb es ihm gestattet ist, einmal im Jahr ins westliche Ausland zu reisen. Doch, anstatt nach Sizilien zu fahren, bleiben sie in Österreich. Da ihre beiden Kinder nichts von der Flucht gewusst oder auch nur geahnt hatten, rebelliert die 17-jährige Magda, da sie in Bratislava ihre erste Liebe zurücklassen musste. Die Familie gerät immer wieder in schwere Konflikte.
An der Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Österreich verrichtet der Korporal Anton Vagner seinen Dienst. Es ist eine ruhige Gegend inmitten von Wäldern, doch vor ein paar Wochen musste er genau hier einen Flüchtling erschießen. Als er einen Arbeiter dabei beobachtet, wie er die Wiese nahe des Grenzflusses mäht, ist er sich sicher, dass auch dieser Mann in den Westen fliehen möchte. Seine anfängliche Angst und Skepsis schlägt aber schon bald in Sympathie um und so beschließt er, gemeinsam mit ihm den Schritt zu wagen. Doch, als Anton ihm zuruft, jetzt sei der rechte Augenblick und ins Wasser springt, schreit der Mann die ganze Kompanie zusammen, da jemand geflohen sei.
In einer Pension in einem Dorf nahe St. Pölten treffen die ehemaligen Landsleute wieder zusammen, um gemeinsam auf das Asyl zu warten. Doch schon hier zeigt sich, dass die erhofften Träume nicht immer der Wahrheit, sondern nur einem Wunschdenken entsprungen sind.
Gekonnt und mit viel Witz erzählt Pavel Kohout von Menschen, die im Westen das große Glück erhoffen, aber dann in einer schäbigen Pension inmitten ihrer Landsleute landen. Es sind die Hoffnungen und Träume, die der Geschichte eine Feinfühligkeit verleihen, denn es gelingt dem Autor, das Menschliche nicht außer Acht zu lassen. Ebenfalls brillant verknüpft er die Lebenswege der vielen Figuren, ohne, dass man beim Lesen den Überblick verliert. Neben den oben beschriebenen Hauptfiguren gibt es nämlich noch eine Reihe daneben, die aber dennoch über eine Statistenrolle hinausragen.
Ein großartiger Roman, der leider nur noch antiquarisch erhältlich ist.