Cover des Buches Vasmers Bruder (ISBN: 9783551729699)
Igelmanu66s avatar
Rezension zu Vasmers Bruder von Peer Meter

Wer mit Ungeheuern kämpft…

von Igelmanu66 vor 9 Jahren

Kurzmeinung: Faszinierender Psychotrip in die Abgründe der menschlichen Seele mit anspruchsvollen Zeichnungen.

Rezension

Igelmanu66s avatar
Igelmanu66vor 9 Jahren

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn,

dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.

Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,

blickt der Abgrund auch in dich hinein.

(Friedrich Nietzsche)

„Mein Bruder arbeitet freiberuflich für einen privaten Fernsehsender. Er hatte den Auftrag für eine Filmdokumentation eine Vorortrecherche über den Serienmörder Karl Denke und Kannibalen zu machen. Obgleich sein eigentliches Arbeitsfeld die Theaterdokumentation ist. Er nahm den Auftrag an, denn er steckte wie gewöhnlich in finanziellen Schwierigkeiten und der Vorschuss war zu verlockend gewesen. So hatte er sich also auf einen dieser entsetzlichen Menschen eingelassen, die nach außen hin brav und bieder leben, als könnten sie keiner Fliege etwas zu leide tun…in Wirklichkeit aber Bauchaufschlitzer sind… Kehlendurchschneider… Hautabzieher… Menschenschlächter, Kannibalen und was es an dergleichen Abartigkeiten, die die menschliche Natur von Zeit zu Zeit ausspeit sonst noch geben mag…“

In der polnischen Stadt Ziebice sitzt ein Mann namens Martin Vasmer in einem Polizeirevier. Er gibt an, seinen Bruder zu suchen, der für eine Recherche über den Serienmörder Karl Denke nach Ziebice gereist war, aber seit einigen Tagen verschwunden ist. Im Gespräch mit dem Polizeibeamten erzählt Vasmer, was er schon alles unternommen hat, um seinen Bruder zu finden. Und was er dabei gleichzeitig über Karl Denke erfuhr…

Ein paar Infos über Karl Denke zu Beginn: Er lebte zwischen 1860 und 1924 im kleinen schlesischen Städtchen Münsterberg (heute Ziebice). Er ermordete wenigstens dreißig Menschen und es wird vermutet, dass er sie auch verspeiste. In seiner Wohnung fanden sich große Mengen von Leichenteilen, teilweise gekocht, sowie Hosenträger, Riemen und Schnürsenkel, die aus Menschenhaut gefertigt waren. Die näheren Umstände der Taten konnten nie umfassend aufgeklärt werden, da Denke noch am Tag seiner Verhaftung Selbstmord beging.

Die Handlung dieses Buches spielt in der Gegenwart und erscheint zunächst unspektakulär. Gut, ein Mann ist verschwunden, der über Karl Denke recherchierte. Aber dieser ist ja nun lange tot und ein polnisches Städtchen für gewöhnlich kein lebensgefährliches Pflaster. Und doch merkt der Leser gleich, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist, dass irgendetwas vor sich geht…

Es liegt an den Bildern in dieser Graphic Novel, dass dieser Eindruck entsteht. Die durchgängig schwarzweiß gehaltenen Zeichnungen wirken häufig unscharf, verschwommen, voller Lichtreflektionen. Das Gesicht des Polizeibeamten ist kaum zu erkennen, erscheint manchmal nur als heller Fleck. Dazu die Sprache… Auf den ersten Seiten dringt nur polnisch an Vasmers Ohr. Er versteht kein Wort davon. Ich übrigens auch nicht, aber mir wird klar, dass ich als Leser nachvollziehen soll, wie Vasmer sich fühlt, was er empfindet. Er fühlt sich hilflos, kann sich nicht verständigen. Die unscharfen Bilder stellen seine Verwirrung dar, seine Desorientierung. Sie wirken wie in einer Traumwelt – oder aus Vasmers Sicht besser einer Alptraumwelt.

Je weiter die Erzählung kommt, desto klarer wird, dass der Grund für Vasmers Desorientierung in dem liegen muss, was er erlebt hat. Der Leser begleitet ihn bei seinen Erinnerungen, ist ganz nah an seinen Empfindungen und blickt gemeinsam mit ihm in einen Abgrund…

Was geschieht mit einem Menschen, der sich intensiv mit einem Mörder wie Denke befasst? Was kann das in ihm auslösen?

Das obige Nietzsche-Zitat steht übrigens einleitend im Buch und ich habe es in diese Rezi mit aufgenommen, da es wirklich sehr passend ist!

Diese Graphic Novel erfordert ein bisschen Zeit, man liest sie nicht so schnell wie andere. Diese Zeit sollte man sich nehmen, um sich ganz auf die Zeichnungen einzulassen. Das ist nicht immer einfach, manche Bilder musste ich eine Weile studieren, um zu erkennen, was auf ihnen geschieht. Genauso wie Vasmer, der versucht zu erkennen, was um ihn herum und mit ihm selbst vorgeht! Ich ziehe hier einen Punkt ab, denn obwohl ich mir sicher bin, was Unschärfe und Dunkelheit aussagen sollen, hätte vielleicht ein bisschen mehr Deutlichkeit an der ein oder anderen Stelle nicht geschadet.

Ansonsten war ich von diesem Psychotrip sehr fasziniert! Im Anhang hat Peer Meter – wie er es eigentlich immer tut – einen historischen Überblick über Karl Denke geschrieben. Dort finden sich auf mehreren Seiten die wichtigsten Daten sowie einige Fotos. Diese Infos sollte man sich auch nicht entgehen lassen – ich komme, vor allem wenn es um die „Blindheit“ der Nachbarn geht, aus dem Kopfschütteln nicht heraus.

Fazit: Faszinierender Psychotrip in die Abgründe der menschlichen Seele mit anspruchsvollen Zeichnungen.

Angehängte Bücher und Autor*innen einblenden (2)

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks