Rezension zu "Hinter dem Weizenfeld" von Penelope Lively
(Die Rezension bezieht sich auf die englische Originalfassung "Heat Wave")
Pauline ist Mitte fünfzig, geschieden und arbeitet als freie Lektorin für einen Verlag. Auch 1996, als "Heat Waves" erschien, hieß das, dass sie per Fax und Post eigentlich von überall arbeiten kann, wo es Strom und Telefon gibt. Dank einer Erbschaft hat sie sich vor ein paar Jahren zwei Cottages in den Midlands gekauft, "World's End", idyllisch und abseits des Londoner Trubels gelegen. Hierhin hat sie sich zurückgezogen und hierhin kommt im Sommer der Geschichte ihre Tochter Teresa mit ihrem Mann Maurice, der in der Ruhe von World's End sein Buch über den Tourismus und die Gesellschaft vollenden will, und dem zweijährigen Sohn Luke.
Einen heißen Sommer lang verfolgt Pauline aus der Nähe das Ehegeschehen ihrer Tochter, sie zieht Parallelen zu ihrem eigenen Leben; ihre Ehe ging zugrunde, weil ihr Mann, ein erfolgreicher Professor, notorisch untreu war. Es mehren sich die Zeichen, dass auch Maurice fremdgeht, und Pauline ringt mit der Frage, ob und wie weit sie sich in die Ehe ihrer Tochter einmischen darf und soll.
"Heat Waves" wäre ein nettes Kammerspiel aus dem akademischen Milieu, der Niedergang einer Ehe durch die Augen von Mutter und Schwiegermutter betrachtet, dazu ein selbstironisches Aquarell über Englands leicht snobistische Akademiker, aber es ist mehr, und das liegt an der Art, wie Penelope Lively schreibt.
"Show, Don't Tell!" hämmern uns Schreibratgeber, Coaches und andere Schreiberlinge immer wieder ein: Schreib nicht, wie sich jemand fühlt, zeig es uns anhand seiner Reaktionen. Und so klumpen sich allerorten bange oder erwartungsfroh Klöße in Mägen und Hälsen, es schnüren sich Gurgeln zu, und kalter Schweiß erscheint auf den Stirnen der Protagonisten.
Nichts davon bei Penelope Lively. Pauline redet und denkt, aber sie bleibt stets rational. Stiff upper lip, sozusagen, sie hält auch uns als Publikum auf Distanz, in ihre Gefühlswelt dringen wir nur indirekt vor. Mit ihrem scharfen analytischen Blick durchdringt Pauline Situationen und ertastet Beziehungen, aber wir sehen davon nur, was ganz oben schwimmt. Beispielsweise analysiert sie bei einem Abendessen, wer bei Tisch mit wem redet - und wer nicht. Was das bedeutet und warum das so sein könnte, müssen wir uns selbst erschließen.
Denn dieses Buch, in dem alle die Contenance bewahren und wir keine (erwachsenen) Gefühlsausbrüche zu sehen bekommen, steckt voller Emotionen, es geht eigentlich um nichts anderes als um Liebe, alte Liebe, Mutterliebe, verlorene Liebe, den Kampf um Liebe und das Lecken der Wunden, wenn jemand, den man liebt, einem so richtig weh getan hat. Penelope Lively schafft es, uns das zu zeigen, ohne etwas zu zeigen - kein Show, ein bisschen Tell, etwa, wenn Pauline sich ausmalt, ihrem Nachbar ihr Leid zu klagen (und es dann doch nicht tut, das gehört sich ja nicht!). Nur die Auswahl der Beobachtungen, die Szenen, in denen sie in ihrer Erinnerungen an die eigene Ehe kramt, all das führt uns Leser_innen an die Figuren und ihre Beziehungen heran und zeigt uns das wahre Thema dieses Romans und das ganze Ausmaß dieses Schlachtfelds der Gefühle.
Oh ja, das ist glaubwürdig, man kauft Pauline sowohl das hohe Maß an Reflektion als auch den messerscharfen Blick ab - sie ist klug, sie ist kritisch, wie auch nicht, schließlich ist sie Lektorin und hat auch auf ihre Texte ein neutrales und unnachsichtiges Auge. Zugleich können wir auch gut jene vielleicht typisch englische Zurückhaltung bis Verklemmtheit der etwas gehobeneren Schichten nachvollziehen, die es ihr verbieten, Gefühle einfach herauszulassen oder auch nur in ihren bewussten Gedankengängen auszusprechen.
So lässt die Geschichte den Leser_innen Raum, sich ihre eigene Interpretation zu bilden, nach unsren eigenen Maßstäben zu befinden, wie schwer die Verletzungen (die vergangenen wie die gegenwärtigen) wiegen, wie sehr das eiserne Schweigen zwischen Mutter und Tochter den Fortgang der Dinge erschwert, wieviel von der tapferen Haltung aller Beteiligten reines Schauspiel ist und wie sehr all das an den Seelen fressen muss.
Ein Buch ist dann gut, wenn es einem etwas mitgibt, zum Behalten und zum Nachdenken. Insofern ist "Heat Waves", in dem es doch nur um eine stinknormale trudelnde Ehe geht, ein richtig gutes Buch.