Cover des Buches Der Besuch des Leibarztes (ISBN: 9783596510740)
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Rezension zu Der Besuch des Leibarztes von Per Olov Enquist

"Die Ungeduld der guten Menschen ist schlimmer als die Geduld der Bösen."

von Kopf-Kino vor 9 Jahren

Rezension

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Kopf-Kinovor 9 Jahren
»Sie sind ja ein Fremder am Hof.«
Es war keine Frage. Es war eine Feststellung. Es sollte ihn einordnen.
Und da hatte er, wie eine Selbstverständlichkeit, ganz und gar natürlich, die absolut richtigen Worte gesagt:
»Ja, wie Sie, Majestät.«

'Der Besuch des Leibarztes' erzählt die Geschichte des deutschen Arztes und Aufklärers Johann Friedrich von Struensee, der zwei Jahrzehnte vor der Französischen Revolution an den dänischen Königshof kommt. Dort befindet sich Christian VII., der geistesgestörten Kinderkönig, inmitten einer Danteschen Hölle: Unfähig zur Machtausübung ist der sowohl hochsensible als auch intelligente 16-Jährige den intriganten Machenschaften seiner Beamten, Ministern und Aufsehern hilflos ausgeliefert.

Rasch gewinnt Struensee mit seinem sanftmütigen und schweigsamen Charakter Christians Vertrauen, was den Neidern und nach Macht strebenden Höflingen ein Dorn im Auge ist. Viele wollen Struensee mit seinen aufklärerischen Gedanken und Reformideen beseitigen.

Als Christian VII. eines Tages seinem Leibsarzt befielt, er solle sich der einsamen und stets traurigen Königin Caroline, Christans sehr junge, aus England stammende Ehefrau, annehmen, nimmt das Unheil seinen Lauf. Die Tragödie beginnt.

Wenn Struensee aus der Geschichte Karl XII. vorlas, sollte er auf einen Stuhl neben dem Bett des Königs sitzen und seine linke Hand halten, während er mit der anderen Hand in dem Buch blätterte. War der König dann eingeschlafen, mußte Struensee vorsichtig seine Hand losmachen und ihn mit seinen Träumen allein lassen. Langsam begann Struensee zu verstehen.

Mir war die Lebensgeschichte Struensees bereits bekannt, ehe ich Enquists Buch las, wollte jedoch so viel wie nur möglich über diese faszinierende Persönlichkeit der Aufklärung erfahren. Allzu viel (neues) Wissen zu erlangen, versprach ich mir demnach nicht, dafür aber einen gut recherchierten, historischen und unterhaltsamen Roman – und genau bei Letzterem lag mein Problem.

Enquist schien sich nicht entscheiden zu können, ob er einen historischen Roman oder eine Sachbuchbiographie schreiben wollte. Für ein Sachbuch fehlten mir definitiv die Quellenangaben, welche mich sehr interessiert hätten, da sich der Autor angeblich auf verschiedene Quellen bezieht. Für eine reine Biographie wurde hierfür zu viel Fiktion beigemischt und die für meinen Geschmack zu pornographischen Szenen waren demnach absolut Fehl am Platz.

Für einen rein historischen Roman war mir die Grundstimmung zu kühl, zu distanziert, die Liebesgeschichte unbegründet und somit unerklärlich, die Sprache ein wenig zu hölzern, von sachlich bis emotionslos.

Gewiss ist eine gute Mischung von beiden Erzählformen machbar - meiner Meinung nach schaffte dies der Autor zu selten, um mich zu überzeugen.

Zum Schreibstil möchte ich noch hinzufügen, dass Enquists Sprache überwiegend gehoben, stellenweise jedoch vulgär ist. Interessant fand ich die sprachliche Experimente, wenn Gesagtes oder Gedachtes expressionistisch mit Satzzeichen verdeutlicht wurde. Die Eindrücklichkeit, die Enquists gewählte Form der Wiederholung erzeugen sollte, langweilte mich leider irgendwann. Stilistisch fand ich das Gesamtwerk ein wenig überfrachtet, die Kunstgriffe manchmal zu gewollt, zu aufgesetzt. Vom Lesefluss stellenweise keine Spur. Schade.

Das Buch an sich ist komplex gestaltet, Enquist wählte viele Sichtweise, die jedoch stets durch die Augen des auktorialen Erzählers betrachtet werden. Sozialpsychologisch wusste mich Enquist, besonders in Bezug auf Christian VII.; zu überzeugen. Der Autor durchleuchtet dessen Krankheitsverlauf sehr eindrücklich und nachvollziehbar. Die Schlussfolgerung, ob der Kindskönig das Opfer der 'schwarzen Pädagogik', die sowohl aus schwerer körperlichen als auch seelischen Misshandlungen während der Kindheit und Jugend bestand, und deren Auswirkungen war, oder Christans Veranlagung zur Geisteskrankheit verstärkten, überlässt der Autor dem Leser. Mir schauderte. Allein schon wegen der Charakterisierung Christans VII lohnte es sich meiner Meinung nach, dem Buch eine Chance zu einzuräumen.

Die Gefühlswelt der anderen Figuren, besonders die des Protagonisten, blieben leider unerwähnt. Die groß auf dem Schutzumschlag angekündigte Liebesgeschichte wurde auf eine rein sexuelle heruntergestuft – kaum ein Wort oder eine Geste, die die Liebe bezeugt hätte. Einzig der König konnte mein Herz ob seines Schicksals berühren, wobei jeder, dem Struensees und Carolines Werdegang vertraut ist, deren Leidensweg schmerzlich vermissen wird.

Die beinahe rührende Beziehung zwischen Struensee und Christan VII. jedoch fing der Autor mit sehr gelungenen Textpassagen ein:

Der König und Struensee waren allein im Wagen.
Christian schlief. Er hatte den Kopf in Struensees Schoß gelegt, ohne Perücke, in eine Wolldecke gehüllt, und während sie langsam durch den dänischen Schneesturm in Richtung Nordosten fuhren, saß Struensee ganz still da und dachte daran, dass das Heilige ist, was das Heilige tut, während er gleichzeitig mit der Hand über Christians Haar strich. Die europäische Reise sollte bald beendet sein, und etwas anderes sollte beginnen, von dem er nichts wußte und nichts wissen wollte.
Christian schlief. Er wimmerte leise, aber das Geräusch war nicht zu deuten: es klang, als träume er etwas Schönes oder Entsetzliches; man verstand es nicht. Vielleicht war es ein Traum von der Wiedervereinigung der Liebenden.

Schade fand ich, dass die recht kurze Zeit der Aufklärung, die mich persönlich sehr interessiert hätte, eher schmückendes Beiwerk waren. Hierfür muss ich mir wohl ein anderes Buch suchen.

Im Großen und Ganzen fand ich das Buch keineswegs schlecht. Mir fehlte die Tiefe und Menschlichkeit, um ein unterhaltsamer Roman zu sein, und die Sachlichkeit, die ein Sachbuch voraussetzt. Das Thema ist hochinteressant, kam meiner Meinung nach jedoch nicht über die guten Ansätze heraus. Somit kann ich keine absolute Empfehlung aussprechen, möchte das Buch aber gleichzeitig niemanden madig reden. Wer Interesse hat, möge sie bitte stillen. Geschmäcker sind verschieden.

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