Cover des Buches Ein anderes Leben (ISBN: 9783446232709)
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Rezension zu Ein anderes Leben von Per Olov Enquist

'Viele Fragezeichen

von wandablue vor 8 Jahren

Kurzmeinung: Enthält interessante Einblicke in Schwedens Herz,; ist aber nicht ganz einfach zu lesen.

Rezension

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wandabluevor 8 Jahren
Viele Fragezeichen.
Einer der angesehensten schwedischen Schriftsteller, Per Olov Enquist, war mir bis dato unbekannt. Völlig unbeleckt von irgendwelchen Kenntnissen mache ich mich an die Lektüre von dessen Autobiografie „Ein anderes Leben.“ Es ist in der dritten Person geschrieben und also literarisch und sehr adrett, dieser Kunstgriff wird aber im folgenden zu übergroßer Distanz und Entfremdung zwischen Autor und Leserin führen.

Die ersten Jahre in Nörrland fördern eine starke Prägung durch die dominante, vereinnehmende Mutter und deren engführende Auslegung des christlichen Glaubens zutage. Das Dorf Hjoggböle ist durch eine unsichtbare Linie getrennt, hier die frömmelnden Mitglieder der pietistisch geprägten Gemeinde, dort die fussballspielenden, lebensbejahenden Heiden. Der Junge, der „lieb“ ist, wie er es selbst nennt, kommt nicht auf die Idee, diese Linie zu übertreten. Eigeninitiative Fehlanzeige.

Die Beziehung zur Mutter wird schwierig, nachdem der Junge sich durch Ortswechsel und Lebensjahre endlich entzieht, Flucht nennt er es. Flucht bleibt ein Lebensmotiv. Flucht in den Sport, Flucht in das Schreiben, Flucht in die Intellektuellenszene, Flucht ins Theaterleben, das die Wirklichkeit ausblendet, Flucht in den Alkohol. Flucht und Furcht und Fluch. Denn die Kindheitsangst und Kindheitstage bleiben irgendwie sitzen und weichen nur, wenn er schreibt. Er leidet, wie er behauptet, „an dem Fluch des Liebseins“. Natürlich wird der Mutter die Sündenbockrolle bestimmt. Aber sie liebte ihn und tat im Rahmen ihrer Möglichkeiten, äusserer und innerer, alles für ihn.

Schreiberisch nimmt der Autor sich zunächst, bevor er sich später (völlig) nach innen wendet, spezieller, schwedisch-historischer Themen an. Mit „Die Ausgelieferten“ attackiert er die Flüchtlingspolitik Schwedens vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und erringt dafür 1969 den Literaturpreis des Nordischen Rates. Der „Auszug der Musikanten“ stellt thematisch das Präludium zur Auswanderung schwedischer Arbeiter Anfang des 19. Jh. nach Argentinien dar, „Der Sekundant“ widmet sich dem Sportbetrug. Er erhält weitere Preise für weitere Werke. Die Laufbahn ist ruhmbedeckt.

Der Autor entdeckt das Theater, schreibt Stücke, führt Regie, wird in diversen Unis der Welt als Gastprof eingeladen, wird wohlhabend. Am Broadway fällt sein Stück „Die Nacht der Tribaden“ indes durch. „Das Leben der Regenwürmer“ hat in Dänemark anhaltenden Erfolg.

Er heiratet mehrmals, hat Kinder, verdient reichlich, hat Einfluß, mischt sich ein, reist häufig, ja, man könnte sagen, er ist zeitweilig unstet und schlägt sich wegen des Aufruhrs, den er durch politsche Artikel und Romane verursacht und wegen des eingetretenen Erfolgs, den niemand vemutet hat – er am wenigsten - an die Brust mit vermeintlicher Demut.

Die Leserin bekommt allmählich Probleme mit dem Autor bzw. seiner zwischen Zynismus und Überhöhung schwankenden Einschätzung seiner selbst und seines Lebens.

• Das generelle Problem ist, dass der Autor nur sehr vage chronologisch vorgeht, so beginnt er zwar mit seiner Kindheit und schreitet immer weiter zeitlich fort, doch zahlreiche Vor- und Rückgriffe erschweren es, die Übersicht zu behalten. Es entstehen unerklärte Zeitsprünge in der Vita. Der Leser weiß überdies nicht, wie die Entscheidungen zustande kamen, da oder dort zu leben und ob es nicht Alternativen gegeben hätte.

• Das Problem ist, dass der Autor bezüglich seiner zahlreichen politisch-skandalösen Stücke, Schriften und Artikel, zum Teil aufdeckender, zum Teil verleumderischer Natur („Alles, was sie machen, wird entweder fast gestoppt oder gestoppt oder sie stoppen es selbst“) selbstverliebt ins Detail geht, jedoch dem Bezug zur schwedischen Tagespolitik weniger Raum einräumt als es der nichtschwedische Leser bräuchte.

• Das Problem ist, dass der Autor, abgesehen von der Mutterbeziehung, sein Privatleben, insbesondere sein Gefühlsleben sowie die Verarbeitung beruflicher und privater Rückschläge vollständig unter Verschluss hält; so entsteht der Eindruck eines sich selbst beweihräuchernden, gefühlskalten Menschen, der die Bedeutung seines bisschen an Literatur Geschaffenem im Verhältnis zum Weltgeschehen überhöht und überschätzt.

• Das Problem ist der Ausdruck, der, zu Ungunsten des Verständnisses mit Gewalt ins Literarisch-Philosophische überhöht ist.

• Das Problem ist, dass durch vorgenannte Punkte der Autor der Leserin immer unsympathischer wird.

Per Olov Enquist lebt mit seiner zweiten Frau fünfzehn Jahre in Dänemark und fühlt sich „im Exil“. Er lernt nie dänisch. Man könnte diese Haltung als eine snobistische interpretieren.

Er lebt drei Jahre lang in Paris und hasst es. Wie kann man Paris hassen? Wenn man bis zum Hals in Problemen steckt, es aber ums Verrecken nicht zugibt! Mit Katze und Frau einsam im Sieben-Zimmer-Apartement lebend (Jammern auf hohem Niveau!), jeweils nur kurz unterbrochen durch Gesellschaften der französischen Intellektuellenszene oder der High Society, ergibt sich der Autor dem Suff. In lichten Momenten schreibt er „In der Stunde des Luches“, eine gräßliche Geschichte über eine Katze, die von einem Fuchs zerfleischt wird.

Der Autor ist Dramaturg und Alkoholiker. Über den Alkoholismus schreibt er den Roman „Gestürzter Engel“.

Warum aber greift der Autor zum Alhokol als einzigem Halt? Warum scheitert er, der doch so viel Erfolg hat und gefeiert wird, auf privatem Sektor mehrfach? Warum kann er Kindheit und Jugend nicht auf gesunde Art und Weise verarbeiten, warum sich nicht aussöhnen mit der Mutter, dem früh verschiedenen Vater, dem Land und sich? Warum zeigt er, zumindest im Buch, kaum eine Regung, kein Gefühl außer Selbstmitleid? Viele Fragen bleiben offen.

Das Buch lebt von Einblicken in das Lebensgefühl und in die Innenpolitik Schwedens, das mag ich sehr und von stilistischen Überhöhungen, die zum Teil schwer nachvollziehbar sind. Das mag ich weniger. Ich fühle mich dem Autor nicht mehr nahe, so wie am Anfang. Ich verstehe ihn nicht. Die letzten intensiven Seiten widmen sich der Alkoholkrankheit und dem Weg in eine neue Freiheit, wieder einmal „entkommen“, nimmt Per Olov Enquist das Schreiben wieder auf und auch diesmal hat er Erfolg. "Kapitän Nemos Bibliothek" schreibt er 1990 noch im Entzug.

Es fällt mir schwer, ein Fazit zu ziehen. Ist „Ein anderes Leben“ ein Roman über einen Menschen, dem es schwer fällt, sich selber zu lieben? Ein Roman über einen Menschen, der gegen seine Prägung rebellierte und mit der Rebellion nicht fertig wird? Ist der Autor ein Mensch, der sich im selbst verursachten Leiden suhlt? Oder doch ganz wer anderer?

Fazit: Es bleiben mehr Fragen offen als beantwortet werden.

Kategorie: Biografie
Verlag: Hanser Verlag


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