Cover des Buches Ein anderes Leben (ISBN: 9783446232709)
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Rezension zu Ein anderes Leben von Per Olov Enquist

Rezension zu "Ein anderes Leben" von Per Olov Enquist

von Kaivai vor 15 Jahren

Rezension

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Kaivaivor 15 Jahren
"Dann schreibt er plötzlich, 1964, zwischen Magengeschwüroperationen und literaturwissenschaftlicher Forschung und, wahrhaftig, einer Hochsprungtournee in Israel, einen historischen Roman, der im 18. Jahrhundert spielt, "Der fünfte Winter des Magnetiseurs", der ganz rein ist, fast blank gescheuert, als hätte seine innere Lötlampe alles ästhetische Wissen und jede Belesenheit fortgebrannt und zu etwas ganz unzeitgemäß Einfachem zurückgefunden. Vielleicht ist er nur ein storyteller? Konsequenz besitzt er jedoch kaum." Aber die Konsequenz, die er kaum besitzt, die besitzt ihn total. 1964 war POE 29. "Der Besuch des Leibarztes", seinen erfolgreichsten Roman, schrieb er mit 63. Mit 46 hab ich zuerst den Leibarzt gelesen und im selben Jahr den Magnetiseur. Das war schön. Ein Jahr später dann "Das Buch von Blanche und Marie". Das war noch viel schöner. Von da an war POE mein liebster Schriftsteller. Gottes Schmetterling, buchstäblich verkleidet. Der hat aber auch einen Stil, der ist ganz einmalig. Schwer zu beschreiben: sublime Schlagworte, präzise Bilder, das wirklich Bedeutende wiederholt er in immer neuen Verschlingungen, wie eine wiederkäuende Schlange. Und nun erzählt er sein Leben. Bis zum Jahr 1991. Dies Leben hat einen Vater, der stirbt, als Per sechs Monate alt ist. Und eine Mutter, die dann alleinerziehend ist und er das einzige Kind (bis auf Eeva-Lisa, seine Pflegeschwester, die irgendwann gehen muß). Sie ist Lehrerin, an der Volksschule in Hjogbolle, einem schwedischen Dorf. Und sie ist sehr fromm. Er ist lieb. Doch mit 14 rebelliert er. Auf dem Plumpsklo. Mit einem Foto von Königin Sibylla. Und dann mit einem Katalog von Ahlen&Holm. Du Dichternatur, du! "Unverdauter Freud, wird ihm im späteren Leben vorgeworfen" und dies zieht sich wie eine Schnur durch seine Geschichte. Der Sohn, der seinen Vater ermordet hat. Unwissend. Aber dennoch. Und seine Mutter geheiratet. Unwissend. Aber dennoch. Das ist ein Trauma. Nicht traumatisch. Aber dennoch. "Er grübelt oft über die Scheidewege im Leben nach. Es hatte an einem Tag gehangen. Einige Jahrzehnte später, 1975, hatte er ein Theaterstück geschrieben, "Die Nacht der Tribaden". Eine unglaublich schöne Journalistin von Danmarks Radio will heraufkommen und ein Interview mit ihm machen, er lehnt ab, nimmt aber den falschen Korridor im Dramaten und stößt aufgrund dieses Irrtums mit ihr zusammen, kann sich nicht entschuldigen, das Interview findet statt und verändert sein Leben. Sie geht im Korridor vorsichtig, beinah schüchtern auf ihn zu, er ist vollständig gebannt, bricht aus seiner Ehe aus, heiratet sie, lebt fünfzehn Jahre mit ihr in Dänemark. Hätte er einen anderen Korridor genommen, wäre sein Leben vollständig anders verlaufen. Er weiß nicht, wohin die Scheidewege ihn führen." Dieser Scheideweg führte ihn schon bald ins Dunkel. Er, der mit seinem Schreiben im Rampenlicht der politischen Öffentlichkeit Schwedens stand und der zweitmeistaufgeführte Dramatiker seines Landes (hinter Strindberg) war, er ging ins Exil, nach Kopenhagen. Zu Lone. Zu Herrn Claussen. Lone war nicht nur schön, sie war auch erfolgreich. Bei der Arbeit. POE konnte nicht mehr arbeiten. Konnte nicht mehr schreiben. Konnte nur noch trinken. Bier aus einer Teetasse (damit es nicht auffällt) auf der Terasse und neben ihm Herr Claussen, sein Nachbar. Der liebte das Märchen von der Schneekönigin und er liebte seine Schwester Gerda. Er hatte auch eine Frau. Doch als seine Frau ihn und seine Schwester, mit seiner Eichel in der Hand, in der Küche antraf, da wurd es schwierig. Später wurd die Gerda verrückt. Herr Claussen und seine Frau haben sie gepflegt. Und POE hat sie gehört: "Saaaauermöööseeeee". (Sakrileg: wie soll ich in wenigen Worten das Unbeschreibliche beschreiben. Die Geschichte von Herrn Claussen hat mich (in ihrer ganzen Verflochtenheit mit Pers Geschichte) so angerührt, wie selten nur etwas gelesenes) "Er ist jetzt vierundfünfzig Jahre alt, er sinkt. Er weiß nicht, wie es zugegangen ist, aber er sinkt." Dann: drei Entziehungskliniken. Der Absturz. Spiegelverkehrte Welt. Stigma. Die erste Klinik in Schweden. Er läuft weg. Dann Island. Er läuft weg. Zuletzt Dänemark. Dort gelingt die Wende. Er beginnt einen Roman: "Kapitän Nemos Bibliothek". Das erste Drittel schreibt er in der Klinik. Februar 1990. Seitdem hat er keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken. Schon mit 14 wußte Per Olov Enquist, dass er eine Suchtnatur hat. Jetzt ist er 74. Viele viele Leser, unter anderen ich, wissen, dass er eine süchtig machende Natur ist. Weil er seine Natur mit Worten zu verkleiden vermag, wie ein Schmetterling, der vom Himmel geflohen ist und der auf die Frage, die ihm ein Löwe mit Flügeln stellt, mit "der Mensch" antwortet.
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