Rezension zu "Mathilde Möhring" von Theodor Fontane
Fontane erzählt die Geschichte der jungen, "gemmengesichtigen" Mathilde Möhring, die lediglich im Profil etwas Schönheit besäße und auch ansonsten nur mittelmäßig gute Chancen in der preußischen Gesellschaft hatte. Mathilde, klug und zielstrebig, ist Ende Zwanzig immer noch ledig und wohnt mit der verwitweten Mutter in Berlin. Sie haben ein Zimmer frei, dass sie schließlich an den jungen Jura-Studenten - kurz vor dem Examen stehend - Hugo vermieten. Hugo ist träge, ein wenig ziellos, liest lieber nicht-juristische Literatur, nimmt das Repetitorium nicht allzu ernst. Nachdem er einen ersten Krankheitsanfall erleidet, kümmert sich Mathilde um ihn; beide kommen sich näher und entdecken - vielleicht mehr aus pragmatischen, denn aus emotionalen Gründen -, dass sie gut zusammen passen. Man verlobt sich. Mathilde, die ihr gesellschaftliches Fortkommen allein darin sieht, ihren Mann in der anvisierten Anwaltsposition zu installieren, forchiert ihren Einfluss, kann den trägen und sonst unengagierten Hugo dazu bewegen, sich erfolgreich auf das Examen vorzubereiten, ihn durch die Referendarzeit zu "motivieren" und am Ende die Ausbildung in Gänze zu bewältigen. Er wird zunächst Anwalt, dann - nachdem beide geheiratet und schließlich auf ein von Berlin entferntes preußisches Kleinstädtchen gezogen sind - Bürgermeister der Ortschaft. Treibende Kraft bleibt im Hintergrund Mathilde. Sie organisiert und pflegt die beruflichen und insbesondere gesellschaftlichen Verbindungen und -verpflichtungen. Sie blüht auf, ihr Selbstbewusstsein wächst mit jedem gesellschaftlichen und beruflichen Erfolg, den ihr Mann Hugo zu verzeichnen hat. Doch das Glück - ob nun privat oder beruflich - währt nicht lange, denn Hugo wird alsbald wieder von gesundheitlichen Problemen ergriffen. Nicht lang nach der Hochzeit erleidet er erneut einen Rückfall und verstirbt recht schnell an den Folgen seiner Schwindsucht. Mathilde steht nunmehr allein und ohne finanzielle Einkünfte da. Sie muss ihr gesellschaftliches Leben als Bürgermeisterfrau verlassen, kehrt zur Mutter nach Berlin zurück. Um ihrer beider Leben finanzieren zu können, holt sie ihr Lehrerinnen-Examen nach und wird schließlich Lehrerin.
Der doch recht knappe Roman - der die meisten Seiten auf Beschreibungen von Mathildes Leben ohne Hugo und deren beider Kennenlernen verwendet - zeigt deutlich die Problematik einer Frau, die selbst - nur dem Kleinbürgertum angehörend - kaum Chancen hat, ihr Können und ihren Ehrgeiz in der preußischen Gesellschaft zu einer Verbesserung ihrer Position aus eigenen Kräften zu erwirken. Statt dessen muss sie sich über die Position ihres Mannes definieren, steckt all ihre Kräfte in dessen Fortkommen. Ist dieser hingegen unwillens oder - wie hier - verstirbt alsbald, entfallen alle Erfolge für die Frau. Sie fällt zurück auf die Position ihrer Herkunft, eine Weiterentwicklung bleibt ihr verwehrt. Insoweit beschreibt der Roman überdeutlich die Realität intelligenter und ehrgeiziger Frauen: die konservative und von Männern geprägte preußische Gesellschaft hat es erst sehr spät anerkannt, dass auch Frauen ihren Weg gehen können; dass dazu eben kein Mann an ihrer Seite sein muss, über den sich Frauen und ihren gesellschaftlichen Rang definieren.
Fazit: Als Milieustudie und Skizze der Verhältnisse, in denen Frauen um 1900 lebten, ist dieser Roman bestens geeignet.