Wirtschaft im Erschöpfungszustand
ein Plädoyer für Wertewandel
Körper und Geist sind „ausgebrannt“. Erschöpfung, Leistungsabfall, Leere kennzeichnen den Prozess, in dessen Verlauf eine idealistische Begeisterung der Desillusionierung, Frustration und Apathie weicht. Das klinische Wörterbuch Pschyrembel bezeichnet diesen Zustand als Burn-out-Syndrom.
Während sich dieses Leiden immer mehr zur Volkskrankheit entwickelt, hat Peter H. Grassmann den Burn-out des Wirtschaftssystems diagnostiziert. Wer will ihm angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise und verzweifelter Rettungsversuche nicht Recht geben?
Grassmann, einst Generaldirektor und Vorstandsmitglied für den Bereich Medizinische Technik bei der Siemens AG, ist in Thüringer Gefilden kein Unbekannter. Von 1995 bis 2001 war er als Vorstandsvorsitzender für die Sanierung und Neuausrichtung von Carl Zeiss in Oberkochen und Jena verantwortlich.
Seine Therapievorschläge, dem Burn-out Einhalt zu gebieten, sind in diesem Jahr im oekom Verlag als Buch erschienen: Burn Out: Wie wir eine aus den Fugen geratene Wirtschaft wieder ins Lot bringen.
Das Grassmann’sche Modell baut vor allem auf Dialog, an dem die gesamte Gesellschaft teilnimmt und der zu einem neuen Wertecodex führen kann, auch, um der Klimaverantwortung gerecht zu werden. Unternehmer und Vertreter der Wirtschaftsverbände sollen am Runden Tisch sitzen, ebenso sachkundige Wissenschaftler und NGOs (Non-Governmental Organizations, also Nichtregierungsorganisationen). Verantwortung übernehmen könne aber jeder Einzelne: „Denn wir als Verbraucher tun ja gerne so, als ob die Verfehlungen nur aus der ‚Marktwirtschaft‘ kämen, und meinen damit [...] die Wirtschaft und deren Manager. Aber das ist zu einfach. Für den Marktwirtschaftler liegt die große Macht beim Kunden, nur von ihm kommt das Geld.“
Das Bewusstsein, als Einzelner etwas tun zu können und nicht auf den Staat zu warten, dient auch einer Mitbestimmung der Zivilgesellschaft, die sich neben der Legislative, Exekutive und Judikative zur vierten Gewalt entwickeln könne. Wirtschaftliche und politische Arbeit seien sehr komplex, aber unvollkommen, wenn Bürger nicht eingebunden sind.
Peter H. Grassmann hat ein Buch vorgelegt, das erstaunt, obwohl es in den abgesicherten Fahrwassern des Ruhestandes verfasst wurde, denn die Wandlung hin zum nachhaltig denkenden Wirtschaftskritiker gelingt wohl den wenigsten Top-Managern. Auf 149 Seiten offenbart Grassmann ungeschönte Wahrheiten und hoffnungsvolle Ansätze.
Die Wirkung des Buches wird sich wahrscheinlich in Grenzen halten. Menschen, die empört sind, werden es lesen, wohl aber nicht diejenigen, die für Empörung sorgen. Um aus dem Dilemma heraus zu rudern, müssen allerdings alle Beteiligten in einem Boot sitzen.
Doch jeder neue Weg erfordert Wissen und Verständnis, hierzu kann das Buch sicherlich beitragen.